Leben auf der Platte

Die Zeit

Von der Babywippe bis in den Rollstuhl lässt sich bald ein ganzes Menschenleben lückenlos auf einer Festplatte archivieren: Alle Fotos, Texte, Gespräche und Videos. Für manche ist es ein Traum, für andere der Horror.

Haben Sie auch die Zeit zwischen den Jahren genutzt, um die achtlos im Schuhkarton gesammelten Fotos des vergangenen Jahres ins Album einzusortieren? Noch einmal die wenigen handgeschriebenen Briefe überflogen, die per Post gekommen sind? Oder wenigstens die Benzin- und Schreibwarenquittungen für die Steuererklärung geordnet? An besinnlichen Tagen werden wir gern zu Archivaren des eigenen Lebens. Bauen die Stapel privater und offizieller Dokumente ab, sortieren endlich die Musik-CDs alphabetisch oder nach Stilrichtung. Manche sind akribisch, beschriften jedes Dia, bewahren jeden Fahrschein auf. Andere tun nur das Nötigste, etwa was das Finanzamt verlangt.

Noch vor ein paar Jahrzehnten blieben von einem Menschen nur wenige Dokumente übrig. Ein paar verblichene Schwarzweißfotos aus der Vorkriegszeit, Briefe in einer Schrift, die heute kaum noch jemand lesen kann, ein paar Dokumente mit alten Hoheitszeichen. Ansonsten lediglich Erinnerungen von Bekannten des Verstorbenen.

Das ist heute anders. Tausende Male wird jeder im Lauf seines Lebens fotografiert. Seit den fünfziger Jahren gibt es uns auch auf bewegten Aufnahmen, zuerst in grobkörnigen Schmalfilmen, dann zunehmend auf Video. Aber erst jetzt wird es wirklich möglich, das Leben quasi lückenlos festzuhalten: Die Digitalisierung aller Medien und die stetig wachsende Kapazität der Datenspeicher erlauben es, fast unser ganzes Erleben auf die Festplatte zu bannen. Alle Texte, die man je gelesen und geschrieben hat. Die gesamte Musiksammlung, von der ersten Teenie-CD bis zur Klassik. Alle Fotos und Urlaubsvideos. In Zukunft: alle Telefonate. Und irgendwann: alle Gespräche, die man führt. Alles, was man sieht. Ein Traum für viele. Oder eine Horrorvision.

Einer, der davon träumt, heißt Gordon Bell. Der 67-Jährige ist bekannt als Computerpionier und Investor vieler Start-up-Unternehmen im Silicon Valley. Seit einigen Jahren sitzt er dort in einem Forschungsbüro von Microsoft und darf sich seinen Visionen widmen. Eine nennt er CyberAll – seine „persönliche Ontologie“. Und er fantasiert nicht nur darüber, sondern geht das Projekt konkret an: Bell sammelt sein Leben. Etwa 30 Gigabyte an Daten hat er bereits zusammengetragen: 50 000 E-Mails, 100 000 Textseiten, 4000 Fotos, 150 Musik-CDs sowie einige Videos, hauptsächlich von Vorträgen, die er gehalten hat. Einen Teil dieses Datenbergs hat Bell auch ins Internet gestellt, sodass jeder sehen kann, welch große Lachse er im Urlaub geangelt hat. Papier ist ihm ein Gräuel – alles, was wichtig ist, wird umgehend durch den Scanner gejagt und als Bild sowie, per automatischer Erkennung, als Text gespeichert. Denn „alles, was man nicht durchsuchen kann, ist nutzlos“, sagt Bell. Weil es ein Forschungsprojekt ist, darf er auch seine Mitarbeiter dafür einspannen. Die scannen ein Buch mittlerweile binnen einer Stunde. Bells Ziel für 2002 lautet: „Das einzige Papier, das ich noch behalten will, sind Geldscheine, Schecks und Aktien.

Er sieht sich dabei als eine Art Versuchskaninchen, das stellvertretend für andere die Mühen der persönlichen Archivierung durchläuft. Denn seltsamerweise gibt es für diese Arbeit noch keine kommerzielle Software. Die Computerfirmen bieten zwar jeweils spezielle Programme zur Bearbeitung von Bildern, Tönen und Videos an, aber kein Programm fürs große Lebensarchiv. Also sammelt Bell zum Beispiel Fotos in Alben, die er mit dem eigentlich für Präsentationen gedachten Microsoft-Programm Powerpoint erstellt hat. Immerhin, für Teile des Problems gibt es mittlerweile pfiffige Hard- und Softwarelösungen. So hat die Firma Apple erkannt, dass immer mehr Menschen ihre Musik im Computer speichern. Nicht nur verbotenerweise aus dem Netz gezogene Songs, sondern auch ganz legal gekaufte CDs. Längst passt nämlich die ganze Sammlung eines durchschnittlichen Musikliebhabers auf eine normale Festplatte, komprimiert im MP3-Format. Dort kann man die Musik nun ordnen oder gezielt nach Titeln suchen. Und neuerdings kann der Fan seine Sammlung auch ständig mit sich tragen: Ein tragbarer MP3-Player namens iPod, so klein wie eine Zigarettenschachtel, fasst 60 Stunden Musik oder 1000 Songs. Schließt man ihn an den PC an, so wird auch auf dem mobilen Gerät die Sammlung aktualisiert.

Primitive Formate halten länger

Gordon Bell arbeitet zwar für Microsoft, dennoch geißelt er die Politik der ewig neuen Programmversionen und Updates der Softwarefirmen. Die sind nämlich Gift für das Projekt der „digitalen Unsterblichkeit“. Er ärgert sich, dass man „fast nichts von dem, was die Leute vor 20 Jahren produziert haben, heute ohne einen riesigen Aufwand lesen kann“. Das Problem ist gleich ein dreifaches: Die alten Speichermedien passen nicht mehr in die Schlitze heutiger Computer. Hat man die Datei irgendwie herübergerettet, dann kann das moderne Programm sie möglicherweise nicht mehr lesen. Und selbst wenn man die alte Software aufbewahrt hat, kann es gut sein, dass diese auf den heutigen Rechnern nicht mehr läuft.

Deshalb empfiehlt Bell dringend allen, die ihre Dokumente sehr lange aufbewahren wollen, Wichtiges in möglichst „primitiven“ Dateiformaten abzuspeichern, also Texte am besten als reinen Text und nicht als Word-Datei. Soll das Layout mitaufbewahrt werden, so hat das PDF-Format gute Aussichten, auch in ein paar Jahren noch entzifferbar zu sein. Fotos sollte man als Rohdatei speichern (oder komprimiert als JPEG). Bei digitalen Videos herrscht noch ein ziemlicher Wirrwarr unterschiedlicher Standards, das „goldene Format“, wie Bell es nennt, ist noch lange nicht gefunden.

Die Kapazität der Speichermedien verdoppelt sich nach dem Mooreschen Gesetz etwa alle 18 Monate. Heute fasst die Festplatte eines handelsüblichen Computers vielleicht 30 Gigabyte, aber in wenigen Jahren wird eine Terabyte-Platte (1000 Gigabyte) zum Standard gehören. Was passt auf eine solche Platte?

Texte sind ein Klacks. Wer als Erwachsener täglich eine Seite schreibt, dessen gesammelte Werke nehmen am Ende etwa 50 Megabyte ein – das macht 0,005 Prozent des Datenspeichers. Der gesamte Lesestoff? Bei einem 300-Seiten-Buch pro Woche belegt das auch nur knapp 0,2 Prozent der Platte. Familienfotos? Rechnen wir mit 500 Bildern pro Jahr, füllen diese in 60 Jahren weitere drei Prozent des Speichers. 97 Prozent sind also noch frei. Musik – nehmen wir eine üppige Sammlung von 500 CDs: Komprimiert benötigen die allenfalls fünf Prozent des Speichers. Bleiben immer noch über 90 Prozent.

Video ist ein Speicherfresser. Wer seine 100 Lieblingsfilme im DVD-Standard oder 250 Stunden persönlicher Familienvideos auf die Platte spielt, verbraucht fast die Hälfte des Platzes. Jetzt wird es zwar eng. Aber nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass ja schon ein Jahr später eine Platte mit der doppelten Kapazität erhältlich ist.

Allerdings haben wir noch gar nicht begonnen, die vollen Möglichkeiten der digitalen Technik auszuschöpfen. Die bisherigen Beispiele beruhen ja auf der altmodischen Vorstellung, man bewahre nur die besonderen Dinge für sich und die Nachwelt auf: außerordentliche Familienereignisse, die schönsten Urlaubseindrücke, die beste Musik – Highlights des Lebens. Mit den fast unerschöpflichen Speichern wächst jedoch die Verlockung, einfach alles zu behalten. Warum soll man sich die Mühe machen, eine E-Mail zu löschen oder missglückte Fotos auszusortieren? Nach dem Prinzip „Erst mal alles sammeln, das Wichtige wird schon dabei sein“ arbeiten zum Beispiel schon einige der neuen digitalen Videorecorder, indem sie etwa alle Science-Fiction-Filme aufnehmen, die an einem Wochenende auf sämtlichen Kanälen laufen. Der Fan sucht sich nachher aus, was ihn interessiert.

In Zukunft wird sich das Löschen also gar nicht mehr lohnen. Dann entsteht ein anderes Problem: Wie finde ich die wichtigen Dinge im Datenmüll wieder? Texte kann man relativ leicht nach Suchbegriffen durchforsten – aber unter 1000 Fotos all jene zu finden, auf denen die Oma drauf ist, das schafft noch kein automatisches System. Zwar arbeiten viele Forscher an Verfahren, auch Motive auf Bildern maschinell zu erkennen. Aber bis diese perfektioniert sind, bleibt nur der mühsame Weg, kryptische Dateinamen wie „DSCN0084.JPG“, die moderne Digitalkameras den Fotos geben, durch Sinnigere zu ersetzen (was kaum jemand tut). Oder zumindest die Bilder in Ordner mit aufschlussreichen Namen zu sortieren.

Amateurfotos mögen grottenschlecht sein, eine E-Mail schludrig dahergetippt – immerhin handelt es sich dabei um gezieltes Festhalten von Erlebnissen oder um eine absichtsvolle Äußerung. Der nächste Schritt hin zum großen Lebensspeicher wäre, einfach alles „mitzuschneiden“. Wie oft haben wir uns rückblickend geärgert, dass just die wichtigsten Ereignisse nicht fotografiert wurden? Oder wenn sich ein Paar ganz banal streitet, wer vor zwei Jahren im Chinarestaurant was gesagt habe – wäre es nicht toll, dies objektiv klären zu können?

Technisch ist das kaum noch ein Problem. Zumindest kein allzu großes. Telefongespräche laufen schon heute teilweise über das Internet, und in Zukunft ist es durchaus denkbar, dass ein zentraler Server in jeder Wohnung den gesamten Datenverkehr regelt. Sämtliche Telefonate mitzuschneiden wäre dann kein Problem. Und die Software zur Spracherkennung ist auch bald so weit, diese Tondaten in Megabyte von – meist gähnend langweiligem – Text umzusetzen.

Aber auch unterwegs soll die Protokollierung des Lebens kein Problem sein. Gordon Bells oberster Chef, Microsoft-Gründer Bill Gates, hat eine entsprechende Vision in seinem Buch Der Weg nach vorn entwickelt: Wallet-PC nennt er ein kleines Gerät, das jeder in Zukunft mit sich herumtragen soll (und das selbstverständlich mit einem Betriebssystem von Microsoft läuft). „Jedes Wort, das man an Sie richtet, wird er registrieren, dazu Körpertemperatur, Blutdruck, Luftdruck und eine Vielzahl anderer Daten, die Sie und Ihre Umgebung betreffen“, schreibt Gates. Und die komplette Videodokumentation, etwa mit einer Minikamera in der Brille, sei nur eine Frage der Zeit.

Es geht also um eine Art persönliche Black Box, die wie ein Flugschreiber das Leben mitschneidet. Bill Gates hat dabei vor allem Sicherheitsfragen im Blick. Wer sein Leben so aufzeichnet, der kann etwa als Zeuge von Unfällen, Verbrechen oder Absprachen seine Aussage untermauern. Oder sein Alibi, wenn er fälschlich beschuldigt wird. Gates sieht aber auch, dass die Datensammelei unheimliche Seiten hat: „Mich schreckt die Vorstellung eines total dokumentierten Lebens schon ein bisschen, doch andere werden Gefallen daran finden.“ Riesige Datenschutz- und Sicherheitsprobleme tun sich auf: Wie sichere ich meine persönlichen Daten vor den Blicken Unbefugter? Kann ich unterschiedliche Zugriffsrechte vergeben – diese Daten darf der Ehepartner, jene dürfen die Kinder sichten und die abgründigen niemand außer mir?

Noch brisanter ist der Umgang mit aufgezeichneten Äußerungen von anderen. Darf man daraus veröffentlichen? Dass Menschen vergesslich sind, ist oft ja auch eine Gnade. Muss ich mich für jeden Satz, den ich einmal in lockerer Runde gedankenlos dahingesagt habe, noch nach Jahrzehnten rechtfertigen? Ein Beispiel aus der Jetztzeit: Im Internet gibt es so genannte Usenet-News-Gruppen – Debattierzirkel zu allen möglichen und unmöglichen Themen. Der Suchdienst Google hat nun ein fast vollständiges Archiv all dieser Gruppen aus den vergangenen 20 Jahren ins Netz gestellt, durchsuchbar nach Stichwörtern oder Autoren. Dort kann man nun nachlesen, wann im Internet zum ersten Mal die rätselhafte Krankheit Aids erwähnt wurde. Man kann aber auch gezielt danach suchen, wie sich eine bestimmte Person in den letzten 20 Jahren zu politischen Themen geäußert hat. Zwar sind die Äußerungen in diesen Diskussionen noch eindeutig öffentlich, aber im Netz wird die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem fließend. Die Vorstellung, in Zukunft auf Schritt und Tritt mit einer Vergangenheit konfrontiert zu werden, die von jemand in Text-, Ton- und Videodateien festgehalten worden ist, hat durchaus ihren Schrecken.

Gordon Bell sieht derweil vor allem die sonnigen Seiten seines Lebensspeicherprojekts. Dessen Internet-Adresse hat er kürzlich in mymainbrain.com umbenannt – „Mein Hauptgehirn“. Ein Hirn, das viel zuverlässiger als das biologische all die Dinge speichert und per Stichwortsuche wieder ausspuckt, die man sonst so leicht vergisst. „Meine Arbeitsweise hat sich total verändert“, freut er sich. In seinem bis auf die Geldscheine tatsächlich papierlosen Büro muss er nicht mehr in dicken Büchern nach Zitaten blättern, er findet sie mit ein paar Mausklicks. In fünf Jahren, so hofft er, wenn auch Billig-PCs mit Terabyte-Platten ausgestattet sind, werde Microsoft eine Art Werkzeugkasten zur Verwaltung des archivierten Lebens auf den Markt bringen.

Was wird in Zukunft bleiben von einem Menschen? Heute sind es einzelne, eher zufällige Momentaufnahmen. In Zukunft wird es bei manchen ein großer Datenberg sein, ein fast kontinuierliches Protokoll, das sie ein Stück unsterblich macht. Nur: Wird sich irgendjemand die Zeit nehmen, das anzusehen? Schon um das eigene Archiv zu durchforsten, müsste man ja eigentlich zweimal leben. Die elektronische Vita von Prominenten wird eine Fundgrube für Historiker und Klatschreporter sein. Normalsterbliche hingegen könnten eher ihre Festplatte mit ins Grab nehmen. Ungelesen.