Nach dem Personal Computer kommt nun der Personal Fabricator. Auf Knopfdruck rutscht die virtuelle Welt dreidimensional aus dem Drucker.
Erste Regel: „Vergewissert euch, wie man die Maschine ausschaltet!“ Neil Gershenfeld hat ein ernstes Gesicht aufgesetzt. Seine zwölf Studenten sollen in den nächsten Tagen an einer elektronisch gesteuerten Drehbank und an einer Fräse arbeiten. Und das ist für Unerfahrene nicht ungefährlich. „Tragt immer eine Sicherheitsbrille! Und Finger weg von den hübschen abgedrehten Metalllocken, die wickeln sich wie Rasierklingen um eure Finger!“
Die Sicherheitseinweisung mag in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen alltäglich sein, aber wir befinden uns am berühmten Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge. Die sechs jungen Frauen und sechs jungen Männer, die einen der begehrten Plätze im Seminar „How To Make Almost Anything“ (zu Deutsch: „Wie man fast alles herstellen kann“) ergattert haben, studieren Informatik, Medienwissenschaft oder Architektur. Nachdem sie in den vergangenen Tagen das Programmieren von Microcontrollern gelernt haben, steht jetzt die Bedienung von Werkzeugmaschinen auf dem Programm. „Jede Woche erschließt sich euch eine ganz neue Welt“, verspricht Dozent Neil Gershenfeld seinen Studenten.
In den nächsten Monaten werden sich die zwölf mit dem Schneiden per Laser oder Wasserstrahl beschäftigen und dreidimensionale Strukturen per „Drucker“ erzeugen. Am Ende des Semesters sollen die Studenten in einem Abschlussprojekt möglichst viele dieser Techniken zum Einsatz bringen. Die 24-jährige Medienstudentin Nadya Direkova will eine zweisprachige Puppe für Immigrantenkinder bauen, der Architekturstudent Brian Miller, 25, eine elektronisch gesteuerte mechanische Spieluhr, die automatisch aus Klangdateien die entsprechende Anordnung der Nägel auf der Walze berechnet. Beispiele von Projekten der vergangenen Jahre: der scream belly, ein schallisolierter Sack, in den frustrierte Zeitgenossen in unpassenden Situationen ihren Frust hineinbrüllen können, um ihn später wieder abzuspielen. Oder der technology detector, der die Anwesenheit von technischen Geräten im Umkreis von einigen Metern anzeigt.
Bei den Projekten geht es nicht um praktische Anwendbarkeit, sondern um den spielerischen Umgang mit möglichst unterschiedlichen Produktionstechniken. Über hundert Studenten haben sich auf die zwölf Plätze beworben – für den Physiker Neil Gershenfeld ein Zeichen dafür, dass er hier einen neuen Trend gefunden hat: weg von den digitalen Illusionen, hin zu praktischen Dingen, die man anfassen kann. Und das am Media Lab, dem Ort, von dem so viele digitale Visionen ausgegangen sind. Hier predigt seit 20 Jahren der charismatische und egostarke Chef Nicholas Negroponte die Welt der Bits, die Umwandlung vieler Dinge des täglichen Lebens in virtuelle Produkte aus Nullen und Einsen.
Vieles davon ist längst alltäglich geworden: Wir fotografieren digital, speichern unsere Musik im PC und schicken E-Mails anstelle von Briefen. Just im Kultzentrum des Virtuellen also wird wieder gebohrt, gefräst und gedruckt. Gegenwärtig spaltet sich der Physiker Gershenfeld vom Media Lab ab und baut mit öffentlichen und privaten Mitteln sein eigenes Forschungszentrum: das Center for Bits and Atoms (CBA). Noch sind Gershenfelds Leute im Keller des Media Lab untergebracht, aber die Pläne für ein neues Gebäude direkt nebenan sind bereits fertig.
Neil Gershenfeld geht es natürlich nicht darum, die Entwicklung der Computer zurückzudrehen. „Wir wollen die Formbarkeit der digitalen Welt in die physikalische Welt bringen.“ In den letzten Jahren habe man sich zu sehr auf die Software konzentriert und die reale Materie vernachlässigt. „Aber viele der aufregendsten Möglichkeiten und Probleme liegen an der Schnittstelle, wo die Information auf ihre physikalische Repräsentation trifft.“ Also dort, wo sich Bits und Atome begegnen. Je weiter die Miniaturisierung der Rechner voranschreitet, umso mehr beeinflusst die Physik die Informatik – etwa bei den revolutionären Quantencomputern, bei denen mit den Zuständen einzelner Atome gerechnet wird (ZEIT Nr. 44/02).
Es geht Gershenfeld aber auch um die Erkenntnis, dass das Leben des Menschen sich letztlich vor der Mattscheibe abspielt und nicht dahinter. „Die digitale Revolution ist gelaufen“, sagt er. „Was als Nächstes kommt, ist nicht eine revolutionäre neue Software, sondern etwas, das sich außerhalb der Kiste abspielt.“
Für den MIT-Physiker ist schon klar, was die nächste Revolution sein wird: So wie vor 20 Jahren der Personal Computer neben die traditionellen Mainframe-Großrechner trat und damit die Welt veränderte, so soll der Personal Fabricator die Art und Weise umwälzen, wie wir Dinge herstellen. Ein PF also, analog zum PC.
Was die MIT-Studenten heute an professionellen Werkzeugmaschinen üben, die mehrere hunderttausend Euro kosten, das soll in Zukunft mit einem kleinen Gerät möglich sein, das sich jeder leisten kann. So wie ein PC heute fast alles rechnen kann, so soll der PF fast alles herstellen können. „Man kann damit keine Raumschiffe bauen. Aber ein ziemlich großer Teil der Technik kann schon heute mit Geräten approximiert werden, die zusammen 10 000 Dollar kosten.“ In der Masse produziert, sollen die PFs dann nur noch ein paar hundert Dollar kosten.
Die Zielgruppe, an die sich diese neue Idee wendet, sind nicht die High-Tech-Freaks mit ihren Laptops und PDAs. Gershenfeld redet von Kindern, alten Leuten und Menschen in der Dritten Welt. „Die brauchen keine teuren PCs, um durchs Netz zu surfen. Sie brauchen eine ihren Bedürfnissen angemessene Technik.“ Um die Idee in der Praxis zu testen, schickte das CBA in Zusammenarbeit mit dem indischen Ableger des Media Lab das so genannte Fablab in das Dorf Pabal – ein Labor, bestehend aus einem PC, einer kleinen Fräsmaschine, einem Gerät zum Drucken elektrischer Schaltkreise und einem kleinen Chemielabor. Das Ziel: Solche Mini-Labors sollen die ländliche Bevölkerung in die Lage versetzen, Ersatzteile für ihre Maschinen, aber auch ganz neue Dinge selbst herzustellen und damit unabhängiger zu werden. In Pabal entwarfen die Dorfbewohner eine neue, energiesparende Schaltung für den Dieselmotor, der sie mit Strom versorgt, und fertigten den entsprechenden Microcontroller selbst.
Auch im Norden Norwegens gibt es ein CBA-Projekt. Dort wollten einheimische Hirten wissen, wo sich ihre Rentiere gerade befinden. Die Lösung ist ein Rentier-Datennetzwerk, das aus Sendern besteht, die den Tieren eingepflanzt werden. Das System funktioniert ohne fest stehende Sendemasten.
Gemäß der Devise des Media Lab ist auch das Center for Bits and Atoms eine Fakultät ohne festes Curriculum. Man arbeitet in Projekten, und die nötigen Kenntnisse eignet man sich nach Bedarf an. „Just-in-time-Bildung“ nennt Neil Gershenfeld das, im Gegensatz zur „Justin-case-Bildung“, bei der man Sachen lernt, die man vielleicht irgendwann einmal brauchen kann. Bei aller übergreifenden „Philosophie“ ist das Center in erster Linie eine Ansammlung ziemlich kluger und kreativer junger Forscher und Studenten, die Spaß am Experimentieren und Erfinden haben. Joe Jacobsen etwa. Der 37-Jährige, mittlerweile Professor am MIT, erfand vor fünf Jahren das „digitale Papier“: ein neuartiges Display, dessen schwarze und weiße Bildpunkte auch dann lesbar bleiben, wenn die Stromversorgung abgestellt wird. Daraus entstand eine Firma, E-Ink, die über 50 Millionen Dollar Startkapital einwarb – und immer noch kein marktreifes Produkt vorzuweisen hat.
Jacobsons neueste Idee: der gedruckte PC. Bisher werden die Chips, die das Herzstück moderner Computer sind, in einem aufwändigen und teuren Verfahren in riesigen Fabriken hergestellt. Eine neue Chipfabrik kostet mehrere Milliarden Euro, und die Produktion eines Pentium-III-Chips mit ihren vielen Einzelschritten zieht sich über zwei Wochen hin.
Jacobsons Team schaffte es, winzige, nanometergroße Halbleiterpartikel zu entwickeln, die man in die Tintenpatrone eines Laserdruckers füllen kann. So lassen sich elektronische Schaltungen drucken, auch in mehreren Lagen übereinander. Die Auflösung bei diesem Druckverfahren ist gegenwärtig noch nicht fein genug, um tatsächlich einen Pentium-Chip zu drucken. Dieses Ziel will Jacobson mit einem Druckverfahren erreichen, bei dem die Struktur in ein Stück Silikon geätzt wird (das Material, aus dem Brustimplantate bestehen), von dem dann beliebig viele Abzüge gedruckt werden können.
Chips aus dem Drucker
Solche gedruckten Schaltungen würden nur noch Cents kosten und könnten viel individueller angepasst werden als herkömmliche Chips, die man nur in großen Stückzahlen profitabel fertigen kann. Und man kann mit dem Verfahren nicht nur starre Schaltungen fertigen – den Forschern ist es bereits gelungen, einen Linearmotor aus Papier zu drucken, der sich tatsächlich bewegt. So ist der Spruch von Neil Gershenfeld zu verstehen, der gern sagt: „Bei mir wird ein Student promoviert, wenn seine Doktorarbeit aus dem Drucker spazieren kann.“
Gedruckt werden am MIT nicht nur Chips – die Studenten werden auch am 3-D-Drucker ausgebildet, der praktisch jede dreidimensionale Form, die im Computer entworfen wurde, als Kunststoff- oder Metallmodell ausgeben kann. So wie beim Drucken eine zweidimensionale Seite Zeile für Zeile aufgebaut wird, erstellt der 3-D-Drucker die Formen Schicht für Schicht aus zwei Sorten Pulver: dem „positiven“, aus dem nachher das fertige Stück besteht, und dem „negativen“, das die Stellen füllt, die am Ende leer bleiben. So lassen sich sogar ineinander verschachtelte Strukturen in einem Arbeitsgang drucken.
Einfache Alternativen zu teuren herkömmlichen Techniken – das Prinzip steckt auch hinter der Arbeit des australischen Doktoranden Saul Griffith. Der 27-Jährige demonstriert mit ein paar lose zusammengestöpselten Apparaturen auf seinem Schreibtisch, wie man Brillengläser schnell und billig fertigen kann: Ein Behälter mit Babyöl, über den eine flexible Membran gespannt ist, dient als Form. Pumpt man mit einer großen Spritze mehr Öl hinein, so wölbt sich die Membran sphärisch. Jetzt legt man einen kreisrunden oder ovalen Ring obendrauf und kann nun jede beliebige sphärische oder ellipsoide Oberfläche erzeugen. Wenn alles justiert ist, wird der Ring mit Kunststoff ausgegossen, mit einer vom Zahnarzt bekannten UV-Lampe gehärtet – und innerhalb von fünf Minuten hat man eine perfekte Linse in der Hand.
Nun gut, das für den Reporter gefertigte Muster enthält noch ein paar Blasen, aber wir haben es ja auch mit einem Prototyp zu tun. Durchaus vorstellbar ist es aber, nach diesem Prinzip ein 1000-Euro-Gerät zu bauen, mit dem der Optiker in der Provinz eines Entwicklungslandes Brillen nach Rezept herstellen kann, ohne auf den teuren Import der herkömmlichen geschliffenen Gläser angewiesen zu sein. Ein Patent auf seine Entwicklung besitzt Griffith jedenfalls schon.
Legospiel mit Molekülen
Daneben bastelt Griffith auf seinem Schreibtisch an Modellen von Molekülen, die er aus ein paar handgesägten Plexiglasteilen und Legosteinen zusammensetzt. Die Frage dahinter: Wie kann man Moleküle dazu bringen, sich selbst zu reproduzieren? Die Vision vom sich selbst reproduzierenden Nanofabrikator geistert schon seit Jahren durch die spekulative Wissenschaftsliteratur. Für die MIT-Forscher aber liegt die Lösung für dieses Problem nicht in winzigen Robotern, die Atom für Atom zusammenbauen, sondern in der Entlehnung von selbst organisierenden Methoden, wie sie die Natur anwendet. Organische Moleküle kann man zum Beispiel mithilfe der so genannten PCR tausendfach kopieren – ein entsprechendes Verfahren für anorganische Moleküle wäre revolutionär.
Werden wir alle bald zu Hause neben dem Tintenstrahldrucker einen 3-D-Printer stehen haben? Braucht die Welt den Personal Fabricator? Neil Gershenfeld ist, als er die Profi-Werkzeugmaschinen für sein Labor gekauft hat, auch nach Deutschland gereist, ins Mekka der Maschinenbauer also. Dort hat er den Ingenieuren von seinen Ideen erzählt, etwa dem Forschungschef eines großen Werkzeugmaschinenherstellers. „Die waren entsetzt, dass Studenten diese Maschinen benutzen sollten“, erzählt Gershenfeld. „Die haben eine monotone Vorstellung davon, was eine Werkzeugmaschine ist.“
Für Gershenfeld ist die Parallele zu den Herstellern von Mainframe-Computern offensichtlich – noch 1977 sagte der Chef der Computerfirma Digital, es gebe „keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus haben wollte“. Der Rest der Geschichte ist wohlbekannt.
Aber es gibt durchaus deutsche Maschinenbauer, die differenziert über Gershenfelds Ideen urteilen. Thomas Bayer von der schwäbischen Firma Wittenstein etwa. Bayer, der mit den Zukunftsversprechungen amerikanischer Visionäre vertraut ist, attestiert Gershenfeld durchaus, dass er mit seinen Forschungen auf dem richtigen Weg ist. Allerdings kann sich der Schwabe nicht vorstellen, was der Normalsterbliche mit einem 3-D-Drucker im Wohnzimmer anfangen soll. „Ich kann mir vielleicht den Schalter am Herd nachbauen, wenn er abbricht“, sagt Bayer, „aber das reißt mich nicht vom Hocker. Das Dilemma, in dem diese Leute stecken, ist, dass sie Lösungen in der Schublade haben und verzweifelt nach Problemen suchen.“
Bayer sieht das Ende der großen Maschinenbaufirmen nicht kommen – im Gegenteil, er glaubt, dass die Verfahren der Nanotechnik in den nächsten Jahrzehnten einen Aufschwung bringen werden für Firmen, die für spezifische Probleme maßgeschneiderte Lösungen liefern können.
Für Neil Gershenfeld gehört der Maschinenbauer damit vermutlich auch zu den geistig unbeweglichen Deutschen, die er überall auszumachen meint. Gern erzählt er von deutschen Studenten, die zwar blitzschlau, aber zu wenig kreativ seien und im MIT-Labor erst einmal „deprogrammiert“ werden müssten, um ihre Talente wirklich zu entfalten. „In vielerlei Hinsicht“, sagt Gershenfeld, „mache ich mir um Indien weniger Sorgen als um Deutschland beim Übergang zur nächsten technologischen Epoche.“