Aus dem Leben gemailt

Die Zeit

Der moderne Computernutzer ist in jeder Lage online. Aus Angst, nicht ereichbar zu sein, verliert die Info-Elite den Anschluss an die Wirklichkeit

Jochen Müller geht nicht ins Internet. Jochen Müller ist im Internet – fast immer. Im Büro muss der 43-Jährige, der als oberster Computerfachmann für die Informationstechnik der Stadt Herten verantwortlich ist, ständig für seine Mitarbeiter per E-Mail erreichbar sein. Aber auch zu Hause ist der Familienvater von drei Kindern immer im Netz. „Früher ging man zum Rechner, fuhr ihn hoch, wählte sich ein, öffnete ein E-Mail-Programm“, erzählt Müller. „Heute komme ich vom Rasenmähen rein, klappe den Laptop auf und sehe sofort, ob neue E-Mails da sind.“

Willkommen in der Welt des „always on“ – Mailen, Surfen, Chatten rund um die Uhr. Seit die drahtlosen WLAN-Netze Einzug in Firmen, Hochschulen und Privathaushalte gehalten haben, muss man sich zum Surfen nicht mehr an einen bestimmten Ort begeben. Smartphones – Handys mit Internet-Empfang – überbrücken die Strecken dazwischen. Das Internet wird zum Nebenbei-Medium. Man ist online, während man arbeitet, fernsieht oder isst. Das Internet drängt sich in jede Ritze des Lebens und fordert Aufmerksamkeit. So wie schon seit einigen Jahren das Handypiepsen jede Konversation unterbricht, so ziehen uns jetzt die sanfte Frauenstimme, das durchdringende Beep oder das blinkende Briefsymbol, die den Empfang einer neuen Mail signalisieren, aus der realen in die virtuelle Welt.

Der Teppich der drahtlosen, oft für jedermann zugänglichen WLAN-Netze –- lokale Datenwolken, in die man sich einloggen kann, wenn der eigene Laptop über eine entsprechende Antenne verfügt – wird immer dichter. In vielen Innenstädten gibt es kostenlose „Hot Spots“ in Cafés und Bars. Die Gelände der Universitäten sind praktisch flächendeckend mit einem drahtlosen Zugang ausgestattet. Auf wissenschaftlichen Konferenzen, vor allem in den USA, gehört es inzwischen zum guten Ton, den Gästen kostenloses WLAN-Internet anzubieten. Die Folge: In vielen Vorlesungen und Vorträgen sieht man Zuhörer mit aufgeklappten Laptops, die fleißig in die Tasten greifen. Sie tippen aber nicht die Worte des Vortragenden mit, sondern erledigen nebenbei ihre private Post oder chatten mit Bekannten. Anja Wanner, eine deutsche Linguistin, die an der amerikanischen University of Wisconsin lehrt, stöhnt über ihre Studenten: „Die zappen sofort ins Internet, wenn sich nur die kleinste Gelegenheit dazu bietet. Man muss sich noch mehr als sonst anstrengen, ihre Aufmerksamkeit zu behalten.“

Auch die Manager der Computerindustrie, bei denen die totale Vernetzung schon aus beruflichen Gründen zum guten Ton gehört, lassen sich in Meetings gern durch den Bildschirm ablenken. Statt wie früher nebenbei zu tuscheln, schicken sie sich nun Instant Messages quer über den Konferenztisch, wenn sie von einer Powerpoint-Präsentation gelangweilt sind. An der vordersten Technologiefront wird schon vorsichtig zurückgerudert: Die New York Times berichtet, dass bei einer Technologiekonferenz, an der Wirtschaftsbosse wie Bill Gates von Microsoft, Steve Jobs von Apple oder Steve Case von AOL Time Warner teilnahmen, die Aufforderung an die Teilnehmer erging, doch bitte während der Vorträge die drahtlose Verbindung ins Netz zu kappen.

Fragt man die ständig mit dem Netz verbundenen Avantgarde-User nach den Schattenseiten ihres digitalen Lebenswandels, fällt eigentlich nie der in den Medien so stark strapazierte Begriff der Informationsflut oder des information overkill. Erfahrene Internet-User haben den Anspruch aufgegeben, alles zu lesen, was es da draußen gibt, sie lassen ihre eingehenden E-Mails automatisch in verschiedene Postfächer einsortieren, sie benutzen elektronische Filter, um der Flut der unerwünschten Werbebotschaften, Spam genannt, Herr zu werden.

Die Sucht nach der nächsten Mail zerstückelt den Tag

Eine Klage, die man dagegen immer wieder hört: Das Netz fordert ständig Aufmerksamkeit und zerstückelt damit das reale Leben. Gerade bei Tätigkeiten, die Konzentration erfordern (etwa beim Schreiben dieses Artikels), lässt der Nutzer sich nur zu gern ablenken: Kaum hakt der Gedankengang ein wenig, schon klickt man mal kurz das E-Mail-Fenster an und schaut nach neuer Post.

Anja Wanner erzählt: „Durch allerhand Mätzchen wird der Rechner zum größten Zeitfresser. Am meisten ärgert mich, dass die Aufmerksamkeit so zerfasert und man sich in immer kürzeren Zeitabständen irgendwelchen Teilaufgaben widmet, anstatt in irgendetwas Größeres einzutauchen.“ Viele gestresste Onliner berichten, dass sie neuerdings bei Dienstreisen bevorzugt die Bahn nutzen – wo gibt es sonst noch drei Stunden am Stück ohne Störung durchs Internet? Vielleicht wäre das ein neues Marketing-Argument für den gebeutelten Bahn-Chef Hartmut Mehdorn. Wahrscheinlicher aber ist, dass bald auch die Bahn in ihren Zügen den Internet-Empfang ermöglicht.

Viele Menschen, die im „Multitasking“-Modus immer mehrere Tätigkeiten gleichzeitig erledigen wollen, halten sich dabei für besonders produktiv. Erste Untersuchungen legen nahe, dass das ein Trugschluss ist. Der Psychologe David E. Meyer von der University of Michigan hat Versuchspersonen getestet, die zwei Dinge gleichzeitig tun sollten, etwa einen Bericht schreiben und nebenher ihre E-Mail erledigen. Das Ergebnis: Die Multitasker, die ständig zwischen beiden Arbeiten hin- und hersprangen, brauchten 50 Prozent mehr Zeit als die Strukturierten, die erst das eine und dann das andere taten.

Die Möglichkeit, rund um die Uhr online zu sein, verwischt zunehmend die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Die meisten Firmen ermöglichen es ihren Mitarbeitern, die E-Mails auch zu Hause zu lesen. Umgekehrt sehen sie es aber nicht immer gern, wenn der Angestellte den Computer im Büro nutzt, um seine Bankgeschäfte zu erledigen, private Mails zu verschicken oder die Urlaubsreise zu buchen. Jochen Müller hat dagegen für seine Mitarbeiter in Herten eine Dienstanweisung erlassen, die das Thema der privaten Internet-Nutzung ausdrücklich nicht regelt – und damit de facto duldet. „Mir ist es egal, ob der Mitarbeiter auf der Toilette die Bild-Zeitung liest oder ob er die gleiche Zeit im Internet privaten Dingen nachgeht. Letzteres ist mir sogar lieber, weil er sich dabei Fertigkeiten aneignet, die er auch beruflich nutzen kann.“ Die Regelung hat er nicht zuletzt für sich selbst erlassen: Nach eigener Einschätzung nutzt er 15 Stunden pro Woche das Firmennetz für private Zwecke, ist aber auch 60 Stunden anwesend. Nur während der 10-minütigen Autofahrt zwischen Wohnung und Büro ist Müller dienstlich nicht erreichbar, und auch das stimmt nicht ganz: Im Auto kann er über sein Smartphone E-Mails empfangen.

Zahlen aus Amerika besagen, dass 23 Prozent der Internet-Nutzer am Wochenende zu Hause ihre beruflichen E-Mails lesen und sogar 42 Prozent während der wenigen amerikanischen Urlaubstage. Dahinter steckt der Horror vor einem vollen Postfach am nächsten Arbeitstag – aber sicherlich auch die Gier nach Information. Selbstverständlich gibt es in den USA schon Namen für das zwanghafte Online-Sein: Online compulsive disorder nennt man das oder auch pseudo-attention deficit disorder, ein Begriff, den die Psychologen Edward M. Hallowell und John Ratey in Anlehnung an das konventionelle Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom geprägt haben. Sie stellen fest, dass die Betroffenen einen physischen Drang danach verspüren, mit dem Netz in Kontakt zu treten. So wie der Nikotinsüchtige alle halbe Stunde seinen Giftpegel justiert, brauchen die Online-Junkies ihren ständigen Kick durch Informationshäppchen, und seien sie noch so unbedeutend.

Den Begriff „Internet-Sucht“ führte ein amerikanischer Psychologe im Jahr 1995 als scherzhafte Scheindiagnose ein – inzwischen bestreitet kaum noch ein Suchtexperte, dass man nach dem Netz genauso süchtig sein kann wie nach Geldspiel oder Drogen. Verlässliche Zahlen gibt es nicht – in einer großen, allerdings nicht repräsentativen Studie der Psychologen André Hahn und Matthias Jerusalem von der Berliner Humboldt-Universität aus dem Jahr 2000 erfüllten 3,2 Prozent der Befragten die Kriterien für ein Suchtverhalten. Extrapoliert auf die 32 Millionen deutschen Internet-User von heute, ergäbe das eine Million Süchtige – eine Zahl, die die Forscher selbst aus ihrer Studie nicht ableiten wollen. Die ehemalige Betroffene Gabriele Farke verbreitet die griffige Million in ihrem Buch OnlineSucht, das im August erscheinen wird (Kreuz Verlag, 14,90 Euro). Unter dem Untertitel Wenn Chatten und Mailen krank machen beschreibt die Autorin, die heute auf einer Website(!) Beratung für Online-Süchtige anbietet, exemplarisch und ergreifend die Schicksale von Menschen, für die die Mattscheibe zum einzigen „Fenster der Sehnsucht“ geworden ist. Es sind vor allem Menschen, die ganze Tage und Nächte in Chats verbringen. Die dort Kontakt zu Partnern finden, die ihnen nach und nach wichtiger werden als die realen Menschen in ihrem Umfeld. Farke berichtet von verzweifelten Angehörigen, deren Interaktion mit dem abhängigen Partner sich darauf beschränkt, ihm ab und zu das Essen neben die Tastatur zu stellen.

Die „ganz normalen“ Informationsjunkies dagegen führen auch in der richtigen Welt durchaus funktionierende Beziehungen und entsprechen nicht dem Klischee vom vereinsamten Freak. Aber auch sie leiden unter Entzug, wenn die Verbindung zum Netz abreißt. „Es macht mich nervös, nicht online zu sein“, gibt Jochen Müller zu. Und der Schweizer Michel Ecklin, der als freier Journalist meist allein in den eigenen vier Wänden arbeitet, stellt selbstkritisch fest: „Es kann schon mal passieren, dass ich tagelang ausschließlich Online-Beziehungen pflege oder zumindest nur online Beziehungen pflege – da fühle ich mich manchmal schon etwas abgeschnitten von der Realität.“ Es ist eine Segnung des Internet, dass man Informationen jederzeit zur Verfügung hat. Wie schnell kann man in Diskussionen eine Sachfrage klären, wenn der vernetzte Laptop immer in Reichweite ist.

Für Stunden der Ruhe wird die Verbindung gekappt

Die Netz-Avantgarde erkennt aber zunehmend, dass es ein Segen sein kann, sich von der allgegenwärtigen Information abzuschirmen. „Mittlerweile finde ich es geradezu heilsam, dem Wunsch nach Information nicht immer sofort nachzugehen“, sagt Anja Wanner. „Man kann sich auch weiter unterhalten, wenn man nicht umgehend nachsieht, was der zweite Name des ersten Kindes von Sabine und Jörg ist oder wie die Hauptstadt von Illinois heißt.“ Fürs nächste Semester hat die Sprachwissenschaftlerin sich vorgenommen, im Büro die Vormittage off line zu verbringen, um in Ruhe arbeiten zu können – „nach dem ersten Mail-Check, versteht sich.“

Auch Jochen Müller kappt in seltenen Momenten die Verbindung zum Netz. Filme im Fernsehen schaut sich der Computerfachmann – nebenbei ein wandelndes Filmlexikon – „mit dem rechten Auge auf dem Fernseher und dem linken auf dem LCD-Bildschirm“ an. Aber es kommt vor, dass ihn ein Film so fesselt, dass er den Laptop zuklappt, um sich nicht ablenken zu lassen.

Und richtig stolz wird Müller, wenn er vom Sommerurlaub des letzten Jahres erzählt, den er mit der ganzen Familie in Spanien verbracht hat. „Alle haben mir gesagt: Das hältst du nicht aus, du bist spätestens am dritten Tag im Internet-Café. Aber ich bin tatsächlich vier Wochen nicht ein einziges Mal online gewesen!“

Dieser Artikel entstand unter Mitwirkung von Teilnehmern der ZEIT-Debatte im Internet