Wie entsteht ein Déjà-vu? Lange mieden Psychologen diese Frage, doch nun versuchen Forscher, das seltsame Phänomen zu ergründen.
„Wir alle haben die Erfahrung gemacht“, schrieb Charles Dickens 1849 in seinem Roman David Copperfield, „dass uns gelegentlich das Gefühl überkommt, dass das, was wir sagen und tun, schon einmal gesagt und getan wurde, in einer fernen Zeit (…), dass wir genau wissen, was als Nächstes gesagt werden wird, als ob wir uns plötzlich daran erinnern würden!“
Eine akkurate Beschreibung des Phänomens Déjà-vu, und vielleicht die erste in der Literatur.
Die meisten Menschen haben es schon einmal erlebt, und lange wurde darüber spekuliert, was dahinterstecken könnte. Sind es Erinnerungen an ein früheres Leben? Ist es eine übersinnliche Wahrnehmung, die uns in die Zukunft blicken lässt? Oder spielen uns die Gedanken nur einen Streich? Systematische Untersuchungen des Déjà-vus begannen aber erst in diesem Jahrtausend. Im Jahr 2003 sichtete der Psychologe Alan Brown die bis dahin erschienene wissenschaftliche Literatur und konnte mit einigen Statistiken aufwarten: Etwa zwei Drittel aller Menschen erfahren demnach irgendwann in ihrem Leben ein Déjà-vu. Die Häufigkeit geht mit dem Alter zurück, und die Erlebnisse werden vor allem durch die physische Umgebung ausgelöst, seltener durch Gesprächssituationen. Abschließend hob Brown den Mangel an psychologischer Forschung zu dem Thema hervor – und wünschte sich weitere Aufklärung mit ausgereifteren Methoden.
Nun soll ein EU-Forschungsprojekt das schwer zu fassende Phänomen weiter durchleuchten. Mit dabei ist der polnische Psychologe Krystian Barzykowski. Sein ursprüngliches Forschungsthema sind unwillkürliche autobiografische Erinnerungen, also spontane Gedächtnisblitze, die uns scheinbar anlasslos überkommen – unverhofft taucht ein Erlebnis oder eine Gesprächssituation aus der Vergangenheit auf. Bei einem Forschungsaufenthalt in Grenoble diskutierte er mit dem dort lehrenden Neuropsychologen Chris Moulin, der sich für Déjà-vus interessierte. Bald stellte sich die Frage: Könnten die beiden Phänomene miteinander verwandt sein? Natürlich mit dem Unterschied, dass wir uns im einen Fall an ein konkretes Ereignis erinnern, im anderen hingegen nur dieses seltsame Gefühl der Vertrautheit haben. „Niemand hatte bis dahin so darüber nachgedacht“, erzählt Barzykowski rückblickend.
Die beiden überlegten: Vielleicht gibt es ein kontinuierliches Spektrum dieser autobiografischen Erinnerungen – am einen Ende die konkreten Erlebnisse, die wir aus unserem Gedächtnis hervorkramen, am anderen Ende das Déjà-vu, bei dem wir überzeugt sind, dass es sich nicht nur um eine Erinnerung, sondern um das Wiedererleben einer vergangenen Szene handelt. In der Mitte des Erinnerungsspektrums könnten wohlbekannte Phänomene wie dieses liegen: Man sieht einen Menschen in der Straßenbahn und weiß genau, dass man sie oder ihn schon einmal gesehen hat – aber man ist nicht in der Lage, die Person einzuordnen.
Barzykowski und Moulin schrieben ihre Theorie auf und veröffentlichten sie 2022 in der Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences. Dieses Journal druckt oft Artikel mit interessanten neuen Ideen und lädt dann Forschende ein, diese Texte mit Kommentaren und eigenen Aufsätzen zu ergänzen: Der Artikel der beiden provozierte 27 Antworten aus aller Welt. Und in keiner Reaktion wurde ihr neuer Forschungsansatz schroff abgelehnt.
„Mir gefällt diese Idee von Barzykowski und Moulin“, sagt Anne Cleary, Kognitionswissenschaftlerin an der Colorado State University. „Es ergibt wirklich Sinn, Déjà-vu als eine Form der spontanen Kognition zu sehen. Wir haben sie ja nicht vorsätzlich.“ Cleary ist die wohl prominenteste Déjà-vu-Forscherin und eine der wenigen, denen es gelungen ist, Déjà-vus im Labor zu erzeugen. Sie nennt ihre Methode den „Déjà-vu-Generator“.
Dieser Generator beruht auf einem Experiment mit virtueller Realität (VR). Anne Cleary konstruierte dreidimensionale Szenerien, die sie ihren Probandinnen und Probanden per Datenbrille präsentierte. Bei manchen Umgebungen gab es strukturelle Ähnlichkeiten zu virtuellen Räumen, die den Testpersonen schon früher während des Experiments gezeigt worden waren – etwa ähnelte die Innenausstattung eines Krankenhausflurs der einer schummrigen Disco. Bei jeder neuen Umgebung wurde gefragt: Kommt Ihnen das bekannt vor? Haben Sie vielleicht ein Déjà-vu? Und tatsächlich gelang es ihr, dieses perplexe Gefühl bei den Testpersonen insbesondere dann hervorzurufen, wenn die Umgebung in ähnlicher Form bereits früher erfahren worden war, es dem Probanden aber nicht gelang, sich konkret daran zu erinnern.
In welche Richtung geht es weiter?
Den Mechanismus dahinter erklärte Cleary folgendermaßen: Sobald sich eine neue Situation vertraut anfühlt, wir aber nicht genau wissen, warum, wenden wir den Blick introspektiv nach innen und durchsuchen unsere Erinnerung nach der Ursache dafür. Wenn diese Suche im Gedächtnis fehlschlägt, kann ein Déjà-vu entstehen. Und ein Grund für diesen Fehlschlag kann sein, dass die neue Situation einer alten lediglich strukturell ähnelt, aber nicht inhaltlich. Zum Beispiel weil die Möbel und andere Gegenstände in einem Raum ähnlich angeordnet sind wie in einer Situation in der Vergangenheit.
Das war ein spektakuläres Ergebnis. Allerdings schien noch etwas zu fehlen: Was war mit dem Gefühl, während des Déjà-vus zu wissen, was als Nächstes passiert? Clearys Team beschloss, auch das zu testen. Mit VR-Szenen, in denen die Personen sich durch die dreidimensionale Kunstwelt bewegen. Zum Beispiel bogen sie in der ersten Szene, dem Krankenhaus, an einer Gabelung nach links ab. In der zweiten Szene, der Disco, stoppte die Bewegung kurz davor, und die Teilnehmenden wurden gefragt: In welche Richtung geht es weiter?
Cleary erwartete, dass die Menschen bei der Vorhersage nun auf die unbewusste Erinnerung zurückgreifen und sich mehrheitlich nach links orientieren würden – so wie zuvor im Krankenhaus. Aber das war nicht der Fall. Hatte der Déjà-vu-Generator also gar keine echten Déjà-vus erzeugt, wenn die Probanden nicht korrekt vorhersagen konnten, was passieren würde? „Ich habe einige Jahre gebraucht, bis mir die Erleuchtung kam“, erzählt die Forscherin. „Ich hatte die falsche Frage gestellt, nämlich ob sie die Zukunft vorhersagen können.“ Vielmehr hätte sie fragen müssen, ob sie das Gefühl haben, die Zukunft vorhersehen zu können. Und wirklich, sobald sie diese Frage stellte, sagten viele Testpersonen: Ja, genau, das Gefühl habe ich!
Gefühl ist auch ein wichtiges Stichwort für Krystian Barzykowski. Zu häufig, sagt der Forscher, würden wir Erinnerung als ein Abrufen gespeicherter Informationen ansehen. Aber unser Gedächtnis ist keine Computerfestplatte. „Wir erinnern uns nicht nur an Dinge, die wir verbalisieren und erklären können. Wo waren wir? Mit wem waren wir zusammen?“ Oft würden wir nur Gefühle aus der Vergangenheit hervorholen, die zeitlich und räumlich nicht unbedingt festzumachen seien. Und ein Déjà-vu könnte eine solche emotionale Erinnerung sein. „Déjà-vu ist danach kein Inhalt. Déjà-vu ist ein komplexes Gefühl.“
Genau das gilt auch für unwillkürliche autobiografische Erinnerungen. Die sind nämlich gar nicht so unwillkürlich, glauben Barzykowski und Moulin. Die meisten von ihnen sprängen nicht aus dem Nichts in unser Bewusstsein, sondern würden durch äußere Reize ausgelöst. „Das menschliche Erinnerungssystem ist ständig aktiv“, sagt Chris Moulin, „es versucht sich einen Reim auf die Umwelt zu machen. Das löst eben manchmal Erinnerungen aus.“
In den kommenden zwei Jahren planen die beiden Forscher nun eigene Experimente, zugleich wollen sie mit Philosophinnen und Philosophen diskutieren, die sich mit dem menschlichen Erinnern beschäftigen – und mit der Metakognition, also dem Denken über das Denken. Denn das Frappierende am Déjà-vu ist ja nicht nur das Gefühl, etwas schon einmal genau so erlebt zu haben. Sondern vor allem das Wissen darum, dass das unmöglich ist. Forschenden wie Barzykowski, Moulin und Cleary geht es darum, das Déjà-vu zusammen mit anderen Erinnerungsphänomenen zu erklären. „Es kann keine Theorie des autobiografischen Gedächtnisses geben, die Déjà-vus nicht mit einbeziehen“, sagt Chris Moulin. „Ein Déjà-vu ist nicht nur ein lustiges Nebenprodukt der Erinnerung. Wir müssen es ernst nehmen.“