Die Zeit
Von Christoph Drösser und Max Rauner
In der kommenden Woche startet eine große Kampagne, um die Deutschen zu besseren Mülltrennern zu erziehen. Dabei krankt unser Recyclingsystem an ganz anderen Problemen. Das Beispiel USA zeigt, wie es besser geht.
„Papa, kommt die alte Zahnbürste in den gelben Sack? Und das Wattestäbchen hier? Die Shampooflasche aber schon, oder?“ Wer im Landkreis Euskirchen wohnt, hat diese Fragen wahrscheinlich schon gehört – im Radio. Denn so begann im April vergangenen Jahres die Testkampagne „Mülltrennung wirkt!“, mit der die Euskirchener zur besseren Mülltrennung erzogen werden sollten. Nun soll die lokale Aktion im ganzen Land ausgerollt werden.
Ist das nötig? 95 Prozent der Bevölkerung geben doch in Umfragen an, den Müll zu trennen. Kommunen verteilen Infoflyer zum Abfallwesen in 13 Sprachen. Die deutsche Abfallindustrie feiert sich als Recycling-Weltmeister. Alle hassen Plastik.
Andererseits: Alle kaufen Plastik. Und von der viel beschworenen Kreislaufwirtschaft ist Deutschland weit entfernt. Neu-Plastik besteht nur zu rund zwölf Prozent aus Recyclingmaterial. Und vor einigen Wochen vermeldete das Umweltbundesamt: Die Menge an Verpackungsmüll in Deutschland ist mal wieder angestiegen, auf nunmehr 226 Kilo pro Kopf, 23 Prozent mehr als im Jahr 2000. Die Hälfte davon fällt in Privathaushalten an. Und dort geraten Verpackungen, Restmüll und Küchenabfälle oft durcheinander. In den gelben Säcken und Tonnen landen 40 bis 60 Prozent Fehlwürfe, klagt die Entsorgungsbranche.
All das zeigt: Herr und Frau Mustermann sind in Sachen Mülltrennung doch nicht so erstklassig. Warum? „Die Leute sind frustriert“, glaubt Henning Wilts vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. „Müll sortieren war ein Kernbestandteil des Umweltbewusstseins der Deutschen. Jetzt sehen sie: Die Hälfte wird verbrannt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass der Abfall in Malaysia landet.“ Dort endet er mitunter auf wilden Müllkippen oder wird im Freien abgefackelt.Der exklusive Newsletter für AbonnentenWir empfehlen Ihnen per E-Mail die besten Artikel aus Ihrem Abonnement.Wie oft möchten Sie den Newsletter erhalten? Am Wochenende Täglich
Es klingt absurd. Vor knapp 30 Jahren wurde der gelbe Sack erfunden, um den Verpackungsabfall zu reduzieren. Indem sie die Kosten für dessen Entsorgung auf die Hersteller abwälzte, hoffte die Politik, dass die Unternehmen für weniger Müll sorgen würden. Das ging offensichtlich schief. Doch statt die Fehler im System zu korrigieren, fällt der Recyclingwirtschaft und -politik nichts anderes ein als die nächste Erziehungsmaßnahme.
Dabei gibt es längst bessere Ideen. Einige wurden bereits in Deutschland erprobt, andere lassen sich in den USA besichtigen, wo Abfallentsorger mit künstlicher Intelligenz und Robotern experimentieren. Wenn man diese Ansätze ernst nimmt, wäre das nicht nur besser für die Umwelt. Auch das tägliche Rätselraten, welcher Müll in welche Tonne gehört, hätte ein Ende.
Die ganze Absurdität des deutschen Müllsystems zeigt sich in der Wortschöpfung vom „intelligenten Fehlwurf“. So nennt die Abfallindustrie jene Abfälle, die Verbraucher zwar in die falsche Mülltonne werfen (Fehlwurf), die aber für Menschen mit Verstand (intelligent) genau dort hineingehören. Das betrifft nicht Papier und Glas – diese Stoffe werden seit Langem vorbildlich getrennt und erreichen Recyclingquoten um 85 Prozent. Problematisch wird es bei Metall und Plastik, das in den gelben und grauen Tonnen landen soll.
In Deutschland wird die Mülltrennung zum IQ-Test
Man muss nur fünf Minuten mit Frank Arleth vor einem Haufen Müll stehen, um den Systemfehler zu erkennen. Arleth leitet eine der modernsten Anlagen zur Abfallsortierung hierzulande. Es ist eine Achterbahn aus Fließbändern, rotierenden Trommeln und Scannern, stolzer deutscher Maschinenbau, aufgestellt in riesigen Hallen im Niemandsland zwischen Euskirchen und Bonn, gleich neben der Autobahn. Hier sortiert die Hündgen Entsorgungs GmbH den Verpackungsmüll der Region im Auftrag privater Entsorgungsunternehmen. Im Halbstundentakt liefern Lastwagen an, was die Menschen in ihre gelben Säcke und Tonnen füllen. In dieser Anlage wurde auch gemessen, ob die Bevölkerung im Raum Euskirchen dank der Kampagne „Mülltrennung wirkt!“ besser sortiert.
In der Anlieferhalle zeigt Frank Arleth auf einen Blumentopf aus Plastik. „Wunderschönes Polypropylen“, sagt er. „Das stört beim Recyceln nicht im Geringsten.“ Der Blumentopf wird automatisch vom Fließband gefischt und mit leeren Shampoo- und Waschmittelflaschen zu einem Ballen gepresst. Dabei dürfte er laut Verpackungsgesetz gar nicht hier sein. „So schön und gut, wie er ist“, sagt Arleth, „der ist eigentlich keine Verpackung.“ Er gehört in die graue Tonne, also in den Restmüll, der in die Müllverbrennung kommt. Wer den Blumentopf in den gelben Sack wirft, macht also einen intelligenten Fehlwurf.
Doch halt! Wurde der Plastikblumentopf mit einer Pflanze darin gekauft, dann ist er eben doch Verpackung und gehört in den gelben Sack. Aber nicht überall in Deutschland, das ist Teil zwei des Irrsinns. Manche Kommunen haben nämlich erkannt, wie unlogisch das System ist, und Abhilfe geschaffen. Zum Beispiel Berlin, Köln und Hamburg. Sie haben die gelbe Tonne durch eine „Wertstofftonne“ ersetzt. Da dürfen alle möglichen Produkte aus Kunststoff und Metall hinein, egal ob Verpackung oder nicht: kaputte Blumentöpfe und Kleiderbügel, verbogene Gabeln, zerkratzte Pfannen, Zahnbürsten, Aludeckel, Joghurtbecher, Kneifzangen, Putzeimer. Aber wehe, eine Hamburger Familie zieht nach Saarbrücken. Dort gibt es neben der orangen Wertstofftonne weiterhin den gelben Sack. In Deutschland wird die Mülltrennung zum IQ-Test.
2011 wollte die Bundesregierung das Durcheinander beenden und die Wertstofftonne in ganz Deutschland einführen. Der Plan scheiterte. Denn für die Entsorgung von Verpackungsmüll sind seit 1991 Privatunternehmen zuständig, für Restmüll die Kommunen. Für die Wertstofftonne müssten sie zusammenarbeiten. Der Versuch, dies per Gesetz vorzuschreiben, wurde im Hickhack zwischen Bund, Ländern und Abfallindustrie geschreddert.
Nun also zurück auf Los: Die Menschen sollen besser aufgeklärt werden, was in welche Tonne gehört. Von kommender Woche an startet die Kampagne „Mülltrennung wirkt!“ deutschlandweit. Acht Millionen Euro für das Jahr 2020, Social Media, Radio- und Fernsehwerbung, eigene Website, das ganze Programm. Wie solch eine bundesweite Kampagne den jeweiligen lokalen Besonderheiten gerecht werden soll, bleibt ein Rätsel.
Man muss an dieser Stelle noch mal auf Euskirchen zoomen. Dort sollte ja überprüft werden, ob Aufklärung einen Effekt hat. Frage also an Axel Subklew, der den dortigen Versuch koordinierte: Haben die Euskirchener ihre Fehlwürfe verringert? Subklew ist heute Sprecher von „Mülltrennung wirkt!“ und sagt: „Die Kampagne war spürbar. Aber wir geben keine harten Zahlen raus.“ Man wolle „keine Diskussion über Messmethodik oder Ergebnisse und deren Interpretation führen“. Schade, nur so ließe sich Voodoo von Wissenschaft unterscheiden. Wir werden also in den kommenden Wochen sehr viel Werbung über Mülltrennung zu hören und zu lesen bekommen, aber ob das irgendetwas bringt, weiß keiner.
Früher drehte sich die Müll-Debatte vor allem um Schadstoffe. Aus Müllkippen sickerte giftiger Ausfluss in den Boden, aus den Schornsteinen der Müllverbrennungsanlagen rauchte krebserregendes Dioxin in den Himmel. In Deutschland wurden Deponien verboten, die Verbrennungsanlagen bekamen immer raffiniertere Filteranlagen. Recycelt wurden Glas, Papier, Metall und Verpackungen. Der Großteil des Mülls wurde „thermisch verwertet“, sprich: unsortiert verfeuert.
Heute dagegen wird der Müll auch unter dem Aspekt des Klimawandels unter die Lupe genommen, vor allem in Ländern, die ihren Abfall auf Deponien kippen, allen voran die USA. Denn aus organischen Abfällen, die auf der Müllkippe vor sich hin verrotten, entweicht Kohlendioxid (CO₂) und Methan, das 25-mal so klimawirksam ist wie CO₂. In den USA tragen Mülldeponien drei Prozent zur nationalen Treibhausgasbilanz bei.
Deshalb träumen amerikanische Kommunen von „zero waste“, null Müll mehr auf die Deponie. Dazu haben die Amerikaner einige Praktiken entwickelt, von denen auch deutsche Müllwerker etwas lernen könnten.
Vision einer intelligenten Müllfabrik
Beispiel San Jose, etwa 70 Kilometer südlich von San Francisco. Dort hat die Verwertungsanlage zwei Tore – in das rechte kommt der Müll aus der Recyclingtonne, die hier blau ist, in das linke der Restmüll aus der grauen Tonne. Beide Abfallströme enthalten Papier, Pappe, Kunststoffe aller Art, doch der unsortierte Restmüll ist nasser; er enthält auch viel organisches Material. Das verschmutzt einen großen Teil des Papiers. Deshalb fängt die Anlage die organischen Anteile ab, die dann zu einer Kompostieranlage transportiert werden, und sortiert den Rest. Nur etwa 20 Prozent des Restmülls, der in Deutschland unterschiedslos verbrannt würde, landen in San Jose auf der Deponie – ein Häuflein unscheinbarer grauer Schnipsel, vor allem von Kunststofffolien, deren sortenreine Erfassung noch immer ein Problem ist.
In Deutschland gibt es wenig Anreize, die Sache so weit zu treiben. Die Müllverbrennung ist aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. „Dioxine sind kein Thema mehr“, sagt Peter Quicker, Professor für Energierohstoffe an der RWTH Aachen: „Wir haben weniger als ein Gramm Dioxine aus allen deutschen Anlagen im Jahr. Der Grenzwert wird bei allen Anlagen um mehrere Zehnerpotenzen unterschritten.“ Auch in der Klimabilanz stehen Müllverbrennungsanlagen gut da. Sie nutzen den Energiegehalt im Abfall, um Strom oder Fernwärme oder beides zu erzeugen.
In einer Studie für das Umweltbundesamt hat Peter Quicker berechnet, dass knapp vier Prozent des Energieverbrauchs in Deutschland mit Abfallverbrennung gedeckt werden. Die CO₂-Bilanz von Müll ist damit besser als die von Kohle und Gas, weil mehr als die Hälfte des brennbaren Materials aus nachwachsenden Rohstoffen stammt. Das kann Omas alter Kleiderschrank sein, aber auch Küchen- und Gartenabfälle sind im Prinzip brennbar und klimaneutral. Dennoch gerät die exzessive Müllverbrennung zunehmend in die Kritik. Zum Beispiel enthalten die organischen Abfälle Phosphor, einen lebenswichtigen Rohstoff, den Pflanzen, Tiere und Menschen für ihren Stoffwechsel brauchen. „Es ist dramatisch, wenn Phosphor im Restmüll bleibt und durch die Verbrennung verloren geht“, sagt Michael Kern vom Witzenhausen-Institut für Abfall, Umwelt und Energie in Kassel. „Diesen essenziellen Stoff müssen wir recyceln und in den Kreislauf zurückführen.“ Zudem fangen viele der organischen Anteile nur Feuer, wenn genügend gutes Brennmaterial im Müll ist. Weil die Deutschen ihr Papier so gut aussortieren, bleibt als Brennmaterial vor allem Plastik – und das ist voll klimawirksam.
Das bedeutet: Die kognitiven Ressourcen der deutschen Mülltrenner werden an der falschen Stelle eingesetzt; die „Mülltrennung wirkt!“-Kampagne trägt weiter dazu bei. Die Debatte dreht sich zu sehr um Verpackungsmüll und Fehlwürfe im gelben Sack und zu wenig um Bananenschalen und Grünzeug. Denn darin sind sich Forscher, Umweltverbände und Abfallindustrie ausnahmsweise einig: Mehr Biotonnen braucht das Land.
Statt den Biomüll bei den Haushalten abzuholen, fordern manche Gemeinden die Bevölkerung auf, Küchenabfälle ähnlich wie Glasflaschen zu einer Sammelstelle zu bringen. Inakzeptabel findet das der Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft: Niemand bringe seinen Teebeutel zum Wertstoffhof. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) hat 2018 abgeschätzt, dass von neun Millionen Tonnen Bioabfall jährlich nur die Hälfte getrennt erfasst und verwertet wird. In 72 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten werden laut Nabu Biotonnen nicht flächendeckend angeboten. Dabei würde die konsequente Trennung des Biomülls noch ein anderes Problem lösen: Der Restmüll wäre nicht mehr so feucht und könnte ohne Weiteres sortiert werden, wie es die Kalifornier jetzt schon vormachen.
In San Jose werden neuerdings noch mehr verwertbare Stoffe aus dem Müll herausgeholt, weil künstliche Intelligenz beim Sortieren hilft. Am Ende des Fließbands findet ein Roboter noch eine ganze Menge Dosen und Flaschen, die den menschlichen Sortierern entgangen sind. Der Roboter MaxAI hat gelernt, wie etwa eine Colaflasche oder ein Milchgefäß aussieht, und klaubt pro Minute bis zu 60 dieser Verpackungen vom Fließband. „So wie Sie eine Trinkflasche erkennen, egal welches Etikett draufklebt, auch wenn sie total zerknautscht ist, so haben wir auch MaxAI trainiert, die Flaschen zu erkennen“, sagt Richard Sweet von der Firma BHS, die MaxAI gebaut hat.
Noch arbeiten die Roboter nur in der Qualitätskontrolle am Ende des Fließbands. Aber Richard Sweet sieht keinen Grund, warum die intelligenten Maschinen nicht irgendwann den gesamten Müll sortieren sollten. Seine Vision ist die intelligente Müllfabrik: „Auf der einen Seite füttert man den Müll hinein, und auf der anderen Seite kommt er sortiert heraus, ohne dass ein Mensch ihn dazwischen berührt hat.“
Sieht sie so aus, die schöne neue Müllwelt? Wenn Privathaushalte Biomüll konsequent aussortieren und kluge Roboter in den Sortieranlagen Einzug halten, dann wird das Mülltrennen zumindest kein IQ-Test mehr sein. Man wird trockenen Abfall, der heute in den gelben Sack oder die graue Tonne kommt, in einen einzigen Behälter werfen; die Sortieranlage fischt alle wertvollen Stoffe heraus, und nur der (möglichst kleine) Rest geht noch in die Verbrennung. Das wäre sinnvoll – wenn, ja wenn endlich die kommunalen und die privaten Entsorger zusammenarbeiten würden. Und natürlich gilt immer noch der Satz, dass Vermeiden besser ist als Verwerten oder Verbrennen.
Wie es nicht gehen sollte, zeigt ein Beispiel aus Euskirchen. Dort wollte ein Hersteller von Kaffeekapseln diese recyclingfreundlicher gestalten. Denn sie bestanden aus mehrlagigem Kunststoff, der nicht zu recyceln war. „Die Produktingenieure haben sich richtig Mühe gegeben“, erzählt der Entsorgungsfachmann Frank Arleth. Am Ende hatten sie Kaffeekapseln aus hellem Polypropylen designt, die von Sortiermaschinen sehr gut erkannt werden. Aber dann legte das Marketing sein Veto ein. Helle Kapseln? Geht gar nicht. Dunkelrot sieht edler aus! So wurde es dann auch. Leider können die Sortiermaschinen dunkelrotes Plastik nicht vom schwarzen Fließband unterscheiden. Die Kapseln landen jetzt wieder im unsortierten Rest – und damit in der Müllverbrennung.