Nur wenige Menschen besitzen das absolute Gehör. Dabei kann man es erlernen – und erstaunlich viele beherrschen es zumindest ein bisschen.
Der siebenjährige Wolfgang Amadeus Mozart war in der Lage, jeden Ton, der im Nebenzimmer auf dem Klavier gespielt wurde, korrekt zu benennen. Das berichtete ein anonymer Schreiber im Augsburgischen Intelligenz-Zettel vom 19. Mai 1763. Die Mozarts waren damals auf Europatournee, um ihre musikalischen Wunderkinder der Öffentlichkeit zu präsentieren, und der Artikel war wohl eine PR-Aktion von Leopold Mozart, Wolfgangs Vater.
Die Fähigkeit, Töne korrekt zu identifizieren, nennt man das absolute Gehör. Sie gilt vielen bis heute als ein Beweis für außerordentliche Musikalität. Entweder man hat sie, oder man hat sie nicht – auch das glauben immer noch viele. Doch die Musikforschung weiß es inzwischen besser.
Wie viele Menschen die Höhe einer Note so genau abschätzen können, dass sie diese benennen können, ist schwer zu sagen. Eine verlässliche Statistik gibt es nicht, die Angaben schwanken zwischen einer von 10.000 Personen und einer von 100. Zumal es ja auch viele Laien gibt, die mit den Bezeichnungen der Noten (C, D, E, F, G und so weiter) nicht viel anfangen können, aber vielleicht präzise hören.
Eigentlich ist es erstaunlich, dass das Absoluthören eine so seltene Eigenschaft ist. Denn in unserem Innenohr ist jede Hörzelle für eine bestimmte Frequenz zuständig (siehe Grafik), und sie ist mit ganz bestimmten Nervenzellen im Hörzentrum des Gehirns verbunden. Derselbe Ton regt also immer dieselbe Empfindung an. Wir verwechseln beim Sehen ja auch nicht Rot und Blau. Und viele Singvögel intonieren ihre Balzgesänge immer in derselben Frequenz. Das relative Hören ist im Grunde die größere kognitive Leistung – wir erlernen sie, wenn uns zum Beispiel Mutter und Vater ein Schlaflied in unterschiedlicher Tonlage vorsingen, wir es aber trotzdem als dasselbe Lied erkennen.
Inzwischen sieht die Wissenschaft die Sache mit dem Absoluthören aber ohnehin nicht mehr so absolut. Der Psychologe Stephen Van Hedger von der kanadischen Western University wollte wissen, wie viele Menschen in der Lage sind, zumindest ein verlässliches Urteil über Tonhöhen zu fällen. Man nennt das auch das „latente absolute Gehör“. Sein Team spielte Probandinnen und Probanden kurze Ausschnitte von bekannten Hits wie Happy von Pharrell Williams oder Umbrella von Rihanna vor, entweder in der Originalversion oder elektronisch um einen Halbton erhöht oder erniedrigt. Die Versuchspersonen sollten jeweils sagen, ob sie die korrekte Fassung hörten oder eine manipulierte. In 64 Prozent der Fälle lagen sie richtig – deutlich häufiger, als wenn sie geraten hätten.
Welche musikalischen Fähigkeiten dabei helfen, testeten die Musikwissenschaftler in weiteren Versuchen: Die Testpersonen sollten Töne nachsingen, die man ihnen vorspielte. Sie sollten sich Musik im Kopf vorstellen und sagen, wie gut ihnen das gelang. Und sie mussten sich Töne für kurze Zeit merken: Zunächst bekamen sie einen Ton vorgespielt, dann einen zweiten, den sie mit den Pfeiltasten einer Computertastatur in kleinen Schritten auf die gleiche Höhe wie den ersten Ton bringen sollten, den sie aber nicht noch einmal zu hören bekamen. Das Ergebnis: Die Fähigkeit, sich kurzfristig Töne zu merken, sagte am besten das Abschneiden im Test mit den manipulierten Hits voraus.
Stephen Van Hedger findet das überraschend: „Es hat zwar beides mit einem Gedächtnis für Musik zu tun, aber das spielt sich auf sehr unterschiedlichen Zeitskalen ab – in einem Fall geht es um zehn Sekunden, im anderen um die Erinnerung an ein Lied, das man vielleicht vor Monaten oder Jahren zuletzt gehört hat.“
Um Musik zu machen, braucht man das absolute Gehör nicht
Menschen mit absolutem Gehör waren von dem Experiment übrigens ausgeschlossen. Die könnten ja schummeln, indem sie die Notennamen der beiden Töne und damit den genauen Abstand erkennen – dann ist es natürlich viel einfacher, den zweiten an den ersten Ton anzupassen. Trotzdem glaubt Van Hedger, dass sein Experiment auch Konsequenzen für unser Verständnis des absoluten Gehörs hat. „Jemand, der nahe bei hundert Prozent liegt, wenn es um die Unterscheidung der Popsongs geht, ist vielleicht eher in der Lage, das zu entwickeln, was wir das absolute Gehör nennen.“
Unter Musikwissenschaftlern ist nämlich inzwischen Konsens, dass man das absolute Gehör erlernen kann. Erblich scheint es nicht zu sein – Kinder von zwei Absoluthörern haben die Fähigkeit häufig nicht. In asiatischen Ländern hören offenbar mehr Menschen absolut, was die Musikforscherin Diana Deutsch von der University of California in San Diego darauf zurückführt, dass in vielen asiatischen Sprachen die Tonhöhe, mit der eine Silbe ausgesprochen wird, deren Bedeutung verändert.
Andererseits gibt es in Japan besonders viele Absoluthörer – und Japanisch ist keine solche Tonalsprache. Dort genießt das absolute Hören einen besonderen Kultstatus, viele Kinder werden im Musikunterricht darauf gedrillt. „Wenn man früh genug damit anfängt, dann liegt die Erwerbsquote der Kinder bei mehr als 90 Prozent“, sagt der Musikwissenschaftler Reinhard Kopiez von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. „Die Musikschulen garantieren das sogar.“
Die Musikwissenschaft dagegen studiere das Phänomen inzwischen kaum noch, weil es nur eine Minderheit der Menschheit betreffe, sagt Kopiez. Es sei vergleichbar mit der Synästhesie, bei der Menschen zum Beispiel Töne als Farben sehen. „Diese Sonderleistungen helfen nicht, zu verstehen, warum Musik auf die Mehrheit der Menschen eine Faszination ausübt.“
Sogar für Profimusiker spielt das absolute Gehör keine so große Rolle, wie man seit Mozarts Zeiten dachte. „Man hat mittlerweile die Erkenntnis gewonnen, dass es einfach nur eine Gedächtnissonderleistung ist. Es hat kaum eine Funktion für Musiker und Musikerinnen“, sagt Kopiez. Zwar gibt es unter musikalisch Aktiven mehr Absoluthörer als in der Normalbevölkerung. Aber selbst viele geniale Komponisten hatten die Fähigkeit nicht, darunter Anton Bruckner und Richard Wagner.
Um Musik zu machen, braucht man das absolute Gehör jedenfalls nicht, sogar auf hohem Niveau. Und manchmal stört es sogar. Der Kantor Werner Lamm aus Hamburg zum Beispiel, der mehrere Chöre leitet, liegt häufig eine halbe Note daneben, wenn er einen Ton erraten soll. „Nach alter Definition gibt es ja so was gar nicht, da hat man es, oder man hat es nicht“, erzählt Lamm. „Aber was ist denn mit Leuten wie mir, die auch ein ziemlich gutes Tongedächtnis haben, aber kein so gutes wie diejenigen, die man nachts um drei wecken kann und die sagen: Das sind 475 Hertz?“
Und wenn ein Chor ohne Instrumentalbegleitung singt und „sackt“ – also im Lauf des Lieds immer tiefer singt –, dann hat ein absolut hörender Dirigent ein Problem: Er muss sich mit dem Widerspruch zwischen den Noten auf seinem Pult und den erklingenden Tönen auseinandersetzen, selbst wenn es immer noch schön klingt. Lamm kann das lockerer sehen: „Ich habe gelernt, dann zu mir selber zu sagen: Ich nenne das, was da erklingt, ein D, obwohl es in Wirklichkeit ein C ist.“
Auch der Psychologe Stephen Van Hedger will das absolute Gehör ein wenig entzaubern – obwohl er es selbst besitzt. „Ich sehe meine Arbeit manchmal so, dass ich versuche, das absolute Gehör den Leuten, die es haben, madig zu machen.“ Und Menschen, die nicht absolut hören, zeigt er mit seinen Experimenten, dass sie eben doch ein bisschen von dieser Fähigkeit besitzen.