Zwei Philosophen behaupten, es gebe einen angeborenen Sinn für Zahlen – und lösen damit eine unerwartet hitzige Debatte aus.
Fünf Sinne habe der Mensch, sagt man gemeinhin, zum Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Wer einen siebten Sinn besitzt, gilt bereits als übersinnlich begabt. Dabei wurden inzwischen eine ganze Reihe weiterer Wahrnehmungsarten identifiziert. Und seit der Hirnforscher Stanislas Dehaene 1997 das Buch Der Zahlensinn veröffentlichte, ist auch von einem angeborenen Sinn für Quantitäten die Rede.
Aber kann man wirklich von einem „Sinn“ sprechen, der Zahlen erfasst, so wie wir eine Empfindung von heiß und kalt haben? Gibt es eine angeborene Fähigkeit, die das mühselige Abzählen von Dingen überflüssig macht? Um diese Frage dreht sich derzeit ein wissenschaftlicher Disput. Dabei geht es letztlich darum, ob Zahlen objektiv existieren oder ob sie eine kulturelle Erfindung sind, wie etwa das Schriftsystem oder Fahrradfahren.
Simultan können wir die Anzahl von bis zu vier Objekten fehlerfrei und spontan bestimmen. Darüber hinaus wird die Wahrnehmung ungenau: Dass eine zehnpunktige Menge größer ist als eine neunpunktige, können wir zwar mit einer gewissen Trefferquote erkennen; ob ein Punktmuster auf einem Blatt Papier tatsächlich exakt neun oder zehn Punkte enthält, fällt uns aber schwer zu entscheiden. Auf ähnlich vage Weise erkennen wir den Unterschied zwischen 90 und 100 oder auch zwischen 900 und 1000 Punkten. Je mehr Dinge, desto größer wird unser absoluter Fehler beim Schätzen.
Die Größe einer Menge abschätzen können auch Schimpansen, Papageien und Bienen
Diese Fähigkeit der groben Schätzung ist offenbar angeboren, man kann sie schon bei Säuglingen nachweisen, und wir teilen sie mit vielen Tierarten. Schimpansen, Papageien und sogar Bienen können mit ähnlicher Genauigkeit wie der Mensch die größere von zwei Mengen auswählen. Das ist von Vorteil im Kampf ums Überleben. Klar ist auch, dass diese Fähigkeit tatsächlich mit der Anzahl von Objekten zu tun hat und nicht etwa damit, welchen Anteil einer Fläche eine Menge von Punkten füllt. Verbindet man zum Beispiel jeweils zwei Punkte mit einer dünnen Linie, sodass sie wie kleine Hanteln aussehen, sehen wir weniger Objekte und können sie leichter erfassen (wie die Erbsen im Bild).
Der Streit aber entzündet sich an der Frage: Was genau nehmen wir mit diesem Zahlensinn wahr? Die Philosophen Jacob Beck und Sam Clarke von der kanadischen York University meinen: „Der Zahlensinn repräsentiert (rationale) Zahlen“. So betitelten sie vergangenes Jahr einen Artikel in der Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences, der eine unerwartet hitzige Diskussion auslöste. Insgesamt 62 Forscherinnen und Forscher antworteten darauf, schrieben Leserbriefe oder ausführliche Gegenartikel. Darin wurden den jungen Philosophen unter anderem „biologische Fehlschlüsse“, „schwerwiegende Ungereimtheiten“ und ein „herablassender Ton“ vorgeworfen, worauf die beiden wiederum (nicht ganz ernst) entgegneten, man unterstelle ihnen wohl, sie würden „aus Spaß Hundewelpen foltern“. Für die Debatte in einem Wissenschaftsjournal ist so ein Ton recht ungewöhnlich.
Vom Zahlensinn zu sprechen sei legitim, argumentieren Beck und Clarke. Zwar könnten wir nicht immer die exakte Anzahl von Objekten einer Menge wahrnehmen; aber wir empfänden ja auch Temperaturen, ohne sie auf ein Zehntelgrad genau beziffern zu können, und könnten den Druck, den ein Gegenstand auf unsere Haut ausübt, nicht in Pascal angeben.
Doch Druck und Temperatur seien objektive physikalische Größen; das Wort „Zahl“ dagegen sei ein „sehr mehrdeutiger Begriff“, entgegnet Rafael Núñez, Kognitionsforscher an der University of California in San Diego. Tatsächlich gilt für die meisten Menschen schon eine Telefonnummer als Zahl, für Mathematiker dagegen sind Zahlen stets verbunden mit einem Regelsystem. Die „natürlichen Zahlen“ (1, 2, 3 und so weiter) zum Beispiel zeichnen sich dadurch aus, dass jede von ihnen einen eindeutigen Nachfolger hat. Das gilt jedoch nicht für jene Größen, die unser Zahlensinn erfasst – für „ungefähr 90“ gibt es keinen exakten Nachfolger. Deshalb lehnt Núñez den Begriff „Zahlensinn“ ab, er spricht lieber von einer Fähigkeit, große Quantitäten zu unterscheiden. Die Objekte dieser Schätzfähigkeit nennt er quanticals, also in etwa „Größen“, nicht Zahlen.
Die australischen Aborigines kamen 45.000 Jahre ohne Zahlen aus
Núñez – von ihm stammt das Zitat mit dem „herablassenden Ton“ – fühlt sich von Beck und Clarke auch deshalb auf den Schlips getreten, weil er sich schon lange mit der Frage beschäftigt, welche Rolle das Zahlensystem in der Entwicklung von Zivilisationen spielt. Gerade hat sein Team eine Förderung des Europäischen Forschungsrats „zur Erforschung der kognitiven und kulturellen Evolution des Rechnens“ in Höhe von zehn Millionen Euro enthalten. Aus Sicht seines Projekts Quanta ist die Frage nach dem Zahlensinn kein bloßer Streit um Worte; die Begriffswahl dokumentiere vielmehr eine Überheblichkeit westlicher Forscher gegenüber anderen Kulturen. Clarke und Beck hätten zudem eine falsche Vorstellung von einer zielgerichteten Evolution, die mit der Entwicklung der modernen Mathematik ihren Höhepunkt gefunden habe.https://28116e385831e678e0dadc09a7ac1fa6.safeframe.googlesyndication.com/safeframe/1-0-38/html/container.html
Unsere heutige Zahlenkultur gründet im antiken Mesopotamien, wo vor mehr als 5000 Jahren exakte Zahlwerte benötigt wurden, um Handel zu treiben. Dieser historische Strang macht aber nur einen Bruchteil der gesamten Menschheitsgeschichte aus und ist noch dazu räumlich begrenzt. „Die Zivilisation der australischen Aborigines ist 45.000 Jahre ohne Zahlen ausgekommen“, erklärt Rafael Núñez. Zahlen seien eine Erfindung wie das Rad oder die Schrift, die nur in einigen Gesellschaften gemacht wurde. Andere – wie die Kultur der australischen Ureinwohner oder Kulturen in Afrika oder Südamerika – kamen auch gut ohne diese Erfindung aus.
Eine plastische Parallele zwischen dem Rechnen und dem Snowboarden
Ähnlich argumentiert Andrea Bender, eine Anthropologin von der norwegischen Universität Bergen, die ebenfalls zu Núñez’ Forschungsgruppe gehört. Der Gedanke, solche Gesellschaften seien „primitiver“ als unsere, sei ebenso falsch wie die Vorstellung, die biologische und kulturelle Entwicklung habe nur eine Richtung. Bender studiert seit Langem die Zahlvorstellungen der Gesellschaften im mikronesischen Raum, einem Inselgebiet im westlichen Pazifischen Ozean. Dabei stellte sie fest, dass die gemeinsame Ursprache, von der alle Sprachen dieses Raums abstammen, über ein ausgeprägtes Zahlensystem verfügte; in Teilen Neuguineas aber haben die heutigen Menschen nur Wörter für die kleinen Zahlen, die wir direkt erfassen können. Für alles, was größer ist, gibt es dagegen relative Begriffe, nach dem Muster „eins, zwei, drei, viele“.
„Wenn eine Gruppe auf einer sehr kleinen Insel gelandet ist“, sagt Andrea Bender, „dann war der Bedarf an großen Zahlen häufig nicht mehr so groß wie auf der Insel, von der sie kamen. Deshalb wurden große Zahlen nicht mehr gebraucht und gingen verloren.“ Die Entwicklung sei also in beide Richtungen möglich, das habe nichts mit den kognitiven Fähigkeiten der Menschen zu tun.
Wenn die Ethnologie es heute vermeidet, von mehr oder weniger entwickelten Zivilisationen zu reden, dann sei das nicht ein Ausdruck von politischer Korrektheit, sagt Bender. „Man kann Kulturen nicht auf einer Skala einstufen. Es ist immer die Frage, ob etwas zu den Bedürfnissen passt, die man hat, und zu der Umwelt, in der man lebt.“
Dass der angeborene Zahlensinn und das erlernte exakte Zahlensystem grundsätzlich verschiedene Dinge sind, zeigen auch Studien der Harvard-Psychologin Susan Carey. Sie hat untersucht, wie Kinder zählen lernen. Anders als man vielleicht denken könnte, verstehen sie Zahlen nicht als eine Präzisierung ihrer biologisch verankerten Mengenwahrnehmung. Vielmehr erlernen sie im Alter von zwei Jahren die Folge „eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben …“ als eine bedeutungslose Kette von Wörtern. Erst eineinhalb Jahre später sind sie in der Lage, Zahlen größer als vier auf Objekte anzuwenden und die exakte Größe einer Menge zu bestimmen. Zählen ist also eine Kulturtechnik, die uns nicht von Natur aus gegeben ist, sondern die wir mühsam lernen müssen.https://28116e385831e678e0dadc09a7ac1fa6.safeframe.googlesyndication.com/safeframe/1-0-38/html/container.html
Rafael Núñez zieht gern eine plastische Parallele zwischen dem Rechnen und dem Snowboarden: Beides sind kulturell vermittelte Fähigkeiten. Dabei greifen wir auf biologisch verankerte Mechanismen zurück – aber es wäre Unsinn, zu behaupten, Snowboarden sei ein Ergebnis der Evolution.
Jacob Beck und Sam Clarke dagegen sind überzeugt davon, dass sich unser Zahlensinn nicht nur auf natürliche Zahlen bezieht, sondern ebenso auf rationale Zahlen, also Brüche. Das schließen sie aus Experimenten mit Lutschern, in denen schon kleine Kinder einen Sinn für Proportionen zeigten. Dabei schmeckten die rosa Lutscher besser als die schwarzen, und die Kinder sollten aus zwei Gläsern wählen. In einem waren insgesamt mehr Lutscher, aber in einer ungünstigeren Proportion von Schwarz und Rosa. Ergebnis: Die Kinder bevorzugten das Glas mit der absolut betrachtet kleineren Menge Lutscher – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie einen Sinn für das Verhältnis und nicht nur für die absolute Zahl schwarzer und rosa Süßigkeiten haben. Und Verhältnisse wie „eins zu drei“ sind in unserem mathematischen Verständnis Brüche, also rationale Zahlen. Rafael Núñez hält dem entgegen: Ja, der Mensch habe ein intuitives Verständnis für solche Situationen, aber er möchte nicht einmal das Wort „Proportion“ verwenden, er spricht lieber von „relativer Größe“.
„Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk“, hat schon der deutsche Mathematiker Georg Kronecker im Jahr 1886 über seine Disziplin gesagt. Die Mitglieder der Quanta-Forschungsgruppe würden sagen: Auch die ganzen Zahlen sind Menschenwerk, und jeder kleine Mensch muss sie sich schwer erarbeiten.
Die beiden Philosophen aus Kanada zeigen sich von der teils heftigen Reaktion auf ihren Artikel überrascht. Zwar halten sie an ihrer These fest, dass wir einen Sinn für wirkliche Zahlen haben – aber sie räumen ein, dass noch eine Menge Forschungsbedarf bestehe. „Ich fände es aufregend, wenn unser Paper zu experimentellen Arbeiten führt“, sagt Sam Clarke, „auch wenn dabei herauskommen sollte, dass wir falschgelegen haben. Das wäre cool.“