Die Zeit
Dazu auch ein Beitrag in „Echtzeit“ beim Deutschlandfunk Kultur
Die öffentlichen Schulen in den USA sind auf Spenden der Eltern angewiesen. Christoph Drösser sammelt regelmäßig Geld für die Bildung seines Sohnes – in Frauenkleidern.
Das letzte Mal haben wir es im März getan. Mein Kompagnon Vince und ich standen wieder als Dragqueens auf der Bühne des kleinen Travestie-Clubs in unserem Viertel und haben uns mit Dollarscheinen bewerfen lassen. Wir tun das nur für unsere Kinder. Vince’ Tochter geht mit meinem Sohn in die dritte Klasse der örtlichen Grundschule hier in San Francisco. Natürlich bleiben die beiden draußen, wenn ihre Väter als „Rainbow Sisters“ auf der Bühne stehen – in Stilettos, Spitzenhandschuhen, Netzstrümpfen und mit Reisbeuteln ausgestopften BHs. Zusammen mit mehreren anderen Akteuren haben wir in diesem Jahr rund 40.000 Dollar zusammenbekommen, der größte Teil davon ging an die Schule.
Zugegeben, das ist eine extreme und nicht gerade jugendfreie Form des Fundraisings für öffentliche Schulen, wie es sie wohl nur im Castro geben kann, der LGBT-Hochburg des liberalen San Francisco. Aber Spendenaktionen kennen alle Eltern, die ihr Kind in den USA auf öffentliche Schulen schicken. Sie backen Kuchen, veranstalten Schulfeste, betteln Nachbarn und Verwandte an. Die öffentlichen Schulen sind kostenlos, viele könnten ohne Spenden aber gar nicht existieren. Es geht nicht um Extras wie Ballettunterricht oder Chinesisch-AGs, sondern um die Grundversorgung mit Lehrern und Lernmitteln.
Unsere Schule, die Harvey Milk Civil Rights Academy, hat 230 Schüler, von der Vorschule bis zur fünften Klasse, und das Spendenziel des Elternvereins in diesem Schuljahr liegt bei 300.000 Dollar – also etwa 1300 Dollar (knapp 1200 Euro) pro Kind. Keine andere Grundschule in der Stadt sammelt so viele Spenden ein wie unsere. Unsere Drag-Show ist nur ein Teil eines Marathons, der sich über das ganze Jahr hinzieht. Schon kurz nach dem Start des Schuljahres beginnt die annual giving campaign, bei der ganz direkt um Geld gebeten wird. Die Einnahmen decken die Hälfte des Budgets ab. Der spring carnival, eine Art Jahrmarkt auf dem Schulgelände, bringt etwa 13.000 Dollar ein. Weihnachten stand ich mit einem Sammeleimer im Foyer des Theaters, in dem der San Francisco Gay Men’s Chorus sein stets ausverkauftes Weihnachtskonzert gab. An vier Abenden haben wir 30.000 Dollar erbettelt. Hinzu kommen die Spendenseiten, die jeder einzelne Lehrer ins Netz stellt, um Zuschüsse für Büromaterialien und die Ausstattung der Klassen einzutreiben. Gar nicht in die Rechnung ein gehen die Stunden, die Eltern als Freiwillige in der Klasse ihrer Kinder verbringen.
Was passiert mit den 300.000 Dollar Spenden? Wir bezahlen davon vor allem eine Lehrerstelle und eine Lehrkraft, die leistungsschwachen Schülern Lese-Nachhilfe gibt. Damit ist der Spendentopf schon zur Hälfte geleert. Ein paar zusätzliche naturwissenschaftliche Kurse, ein bisschen Kunst, Geld für die Bücherei, Fortbildung für die Lehrer, frisches Obst für die Kinder – schon ist das Geld weg. An unserer Schule gibt es keine Lehrer für Kunst oder Musik, der Sportunterricht besteht aus ein paar Turnübungen in voller Montur auf dem Schulhof, Fremdsprachen werden in den USA ohnehin nicht in der Grundschule gelehrt.
Kalifornien liegt bei den Bildungsausgaben pro Schüler im amerikanischen Mittelfeld. Die Lehrergehälter sind in San Francisco, der teuersten Stadt des Landes, besonders niedrig. Im Durchschnitt bekommt ein Pädagoge hier 60.000 Dollar im Jahr. Nur wenige Lehrer können sich eine Wohnung in der Stadt leisten, die meisten haben weite Arbeitswege. In den Sommerferien beginnt jedes Jahr die große Abwanderung, weil viele Lehrer anderswo bessere Konditionen finden, und die Schulen starten mit unbesetzten Stellen ins neue Jahr.
Die Unterfinanzierung des öffentlichen Schulsystems führt zu beklagenswerten Zuständen, aber es bleibt ein großes Rätsel, wo all das öffentliche Geld eigentlich versickert. Denn wenn man auf die nackten Zahlen schaut, beträgt der Bildungsetat pro Grundschüler in San Francisco etwa 10.000 Dollar im Jahr; in Deutschland sind es nach Angaben der OECD umgerechnet rund 8600 Dollar. Angesichts der niedrigeren Gehälter müsste hier also ein viel größerer Rest zur freien Verfügung stehen.
Das ausufernde Spendenwesen verstärkt die soziale Spaltung
Wieso kann man in Deutschland mit weniger Geld mehr Schule machen? Eine klare Antwort auf diese Frage können auch Bildungsexperten nicht geben. Ludger Wößmann vom Ifo-Zentrum für Bildungsökonomik in München verweist darauf, dass amerikanische Schulen über die Fachlehrer hinaus mehr Personal beschäftigen als deutsche. Etwa Hilfslehrer und Sozialarbeiter, die bitter nötig sind in einem Land mit größeren sozialen und ethnischen Unterschieden. Dazu kommt ein Verwaltungswasserkopf: Weil das Schulwesen Sache der Kommunen ist, hat jeder Distrikt eine üppige Schulverwaltung. In San Francisco sind von rund 10.500 Beschäftigten des Schuldistrikts nur 3700 Lehrer auf vollen Stellen, dafür arbeiten 1400 Mitarbeiter im Schulamt.
So nervig es ist, ständig auf Geldspenden angesprochen zu werden – natürlich stärkt das Fundraising auch die Identifikation der Eltern mit der Schule ihrer Kinder. Man schätzt ein Angebot mehr, für das man hartes Geld bezahlt. Aber das ausufernde Spendenwesen verstärkt auch die soziale Spaltung der Stadt: Die Bemühungen, allen Kindern die gleichen Chancen zu geben, unabhängig von Klasse und ethnischer Gruppe (ZEIT Nr. 29/17), werden konterkariert, wenn wohlhabendere Eltern die Schule ihrer Sprösslinge mit privatem Geld aufpäppeln. Die reichsten zehn Grundschulen der Stadt sammeln mehr ein als die restlichen 61 zusammen, die ärmsten 35 Schulen weisen offiziell überhaupt keine Spenden aus, haben teilweise nicht einmal einen Elternverein. Häufig sind das jene Schulen, auf die Kinder aus den ärmsten Familien gehen, die Schwarzen, die Latinos.
In anderen Gegenden Kaliforniens dürfen einzelne Schulen deshalb überhaupt keine Spenden mehr eintreiben, etwa im Distrikt Santa Monica-Malibu. Nur Spenden an den gesamten Schulbezirk sind erlaubt. Die Eltern protestierten – und die reichen Einwohner des Strandstädtchens Malibu wollten sich gar vom ärmeren Santa Monica abspalten. Als Folge gingen die Spenden insgesamt zurück. Gut verdienende Eltern schicken ihren Nachwuchs da lieber auf eine der teuren, gut ausgestatteten privaten Schulen.
Über den Zustand der öffentlichen wird in den USA permanent diskutiert. Gerade die Demokraten setzen sich sehr für eine bessere Ausstattung und eine Aufwertung dieser Schulen ein – lassen ihre eigenen Kinder aber häufig anderswo unterrichten. Die Eltern- und Lehrerorganisationen sind sich einig, dass eine sozial gerechte Lösung nur darin bestehen kann, dass man die öffentlichen Schulen mit mehr Mitteln ausstattet. 2018 stimmten die Wähler in San Francisco dafür, eine neue Grundsteuer zu erheben, um damit die Lehrergehälter erhöhen zu können. Das Gesetz steckt allerdings vorerst in irgendwelchen Gerichten fest. Also gingen wir Eltern Anfang des Jahres auf die Straße und erkämpften erfolgreich eine Übergangsfinanzierung durch die Stadt.
Vater eines Schulkinds in den Vereinigten Staaten zu sein wird schnell zum Vollzeitjob, mit und ohne Frauenkleider.