Ein Besuch in der Waldorf School of the Peninsula, die eine Oase in der technikzentrierten Welt des Silicon Valley darstellt.
(Anmerkung: Dies ist die Originalfassung eines Textes, von dem Teile in dem Artikel Nächste Stunde: Namen tanzen der ZEIT vom 28. August 2019 verwendet wurden.)
Das Facebook-Hauptquartier liegt eine Viertelstunde nördlich, der Apple-Campus eine Viertelstunde südlich. Und zum Googleplex kann man zu Fuß gehen. Die Waldorf School of the Peninsula befindet sich im Zentrum von Silicon Valley, und aus den Mitarbeitern der Tech-Konzerne rekrutiert sich ein großer Teil der Elternschaft. Es scheint fast so, als wollten die Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit immer neue Gadgets und Online-Ablenkungen erschaffen, ihre eigenen Kinder von diesen Produkten fernhalten und sie in einer technikfreien Schutzzone aufwachsen lassen.
„Wir sind nicht gegen Technik, wir sind für den richtigen Einsatz von Technik“, sagt Pierre Laurent, der Vorsitzende des Beirats der Schule. Und das bedeutet konkret: Nicht nur die Handys der Schüler müssen ausgeschaltet im Rucksack bleiben, bis zur 10. Klasse sind auch Computer im Unterricht tabu. Entsprechend der Waldorf-Philosophie lernen die Jugendlichen vorwiegend anhand von Primärquellen und ohne Schulbücher.
An diesem Morgen im Mai sieht das in einer neunten Klasse so aus: Die Biologielehrerin hat einen echten Kuhschädel vor den 18 Jugendlichen aller Hautschattierungen aufgebaut, die in einem zweireihigen Halbkreis um sie herum sitzen. Sie zeigt, wie man aus der Beschaffenheit des Kiefers auf die Ernährungsweise des Rinds schließen kann. Später wird das Menschenskelett aus der Ecke hervorgezogen, die Lehrerin beschreibt, aus welchen Knochen Arme und Beine bestehen. Schließlich bekleben die Schüler einander paarweise mit Etiketten für Schien- und Wadenbein, Elle und Speiche.
Es gibt wie wohl in jeder Schule die eine oder andere Tuschelei zwischen den Kindern, aber es ist schon bemerkenswert, wie aufmerksam die Schülerinnen und Schüler dem Unterricht folgen. Der Eindruck von Ruhe und Verlangsamung setzt sich auf den Fluren der Schule fort. Die Mauern beherbergten vorher eine andere Schule und sind nur gemietet, deshalb haben die Waldörfler keine großen architektonischen Veränderungen vorgenommen. „Ich merke es aber immer sofort, wenn ich in einer Waldorfschule bin“, sagt Pierre Laurent. Etwa, wenn er die Kunstwerke an den Wänden sieht.
Laurent hat Mathematik studiert und arbeitet selbst in der Tech-Branche, nach Stationen bei mehreren großen Firmen mittlerweile als Berater. Er legt Wert auf die Feststellung, dass die Schule keine dogmatische „Steiner-Schule“ ist. Anthroposophie wird hier nicht gelehrt. Die Schriften des Waldorf-Begründers hat er nur oberflächlich gelesen, das entwicklungspsychologische Grundwissen holt er sich lieber von Pädagogen der nahe gelegenen Stanford-Universität. Die 100 Jahre alte Lehre Steiners manifestiert sich eher in einigen Prinzipien, die auch von vielen modernen Pädagogen geteilt werden: dass Kinder gemäß ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung unterrichtet werden müssen. Und dass man Wissen am besten erwirbt, wenn nicht nur die intellektuelle Ebene angesprochen wird, sondern auch die künstlerisch-emotionale und die praktisch-handgreifliche. Jeweils vier Stunden Kunst, Musik und Sport haben die Oberschüler pro Woche, darunter eine Stunde Eurythmie – der einzige typische Waldorf-Lehrinhalt. Auch in den naturwissenschaftlichen Fächern wird der Erfolg nicht anhand von Tests gemessen, sondern es wird ein künstlerischen Protokoll-Buch bewertet, das die Schüler zu jedem Kurs anfertigen.
Wie überall auf der Welt müssen auch die etwa 135 Waldorfschulen in den USA, von denen 36 auch die Oberstufe anbieten, zertifiziert werden. Die Schule in Mountain View wird alle sieben Jahre vom amerikanischen Dachverband AWSNA besucht, man erledigt diese Überprüfung praktischerweise parallel mit der Anerkennung durch die Western Association of Schools and Colleges (WASC), die garantiert, dass der Waldorf-Abschluss einen Universitätsbesuch ermöglicht.
Natürlich sind die Schüler, die hier vom Kindergarten bis zum Highschool-Abschluss unterrichtet werden, ganz normale amerikanische Kids. Wenn sie von der Schule nach Hause kommen, checken auch sie ihren Instagram-Feed. „Ich glaube, das Ziel von Waldorf ist es, uns zu ermutigen, die Dinger nicht nur in der Schule aus zu lassen, sondern auch nicht davon abhängig zu sein“, sagt die 16-jährige Sarah, die gerade die 11. Klasse abgeschlossen hat.
Ihr Klassenkamerad Cord, der gerade von einer öffentlichen Schule zu Waldorf gewechselt ist, kann den Unterschied zwischen den beiden Schulformen gut beurteilen. „In der öffentlichen Schule schalten die Kids ab, wenn sie 50 oder sogar 90 Minuten zuhören sollen“, sagt er. „Hier laden uns die Lehrer ein, Teil der Konversation und des Lernprozesses zu sein.“
Natürlich ist der Vergleich unfair. Mit wenigen Ausnahmen sind die amerikanischen Waldorfschulen Privatschulen. Während die öffentlichen Schulen jedes Kind akzeptieren müssen, werden die angehenden Schüler hier nach einer Woche Probeunterricht handverlesen – nicht nach ökonomischen Kriterien und nicht aufgrund von schulischen Leistungen, sondern danach, „ob wir diesem Schüler helfen können“, wie es Laurent ausdrückt. Erst wenn darüber entschieden ist, wird beurteilt, ob sich die Eltern die happige Schulgebühr (umgerechnet 31.000 Euro pro Schuljahr für US-Bürger und 38.000 für Ausländer) leisten können oder ob ihnen eine Ermäßigung gewährt wird.
Die kalifornische Waldorf-Schule mag keine typische sein, eines hat sie mit vielen Schwesterschulen weltweit gemein: Die Impfrate der Kinder war beim letzten Vorschul-Jahrgang mit 60 Prozent wieder einmal erschreckend gering, obwohl die Schule eine erklärte Pro-Impf-Politik hat. Pierre Laurent ärgert das: „Es ist Zeit, dieses Klischee von den Waldorfschulen als Hort von Impfgegnern zu den Akten zu legen. Schon allein deshalb, weil es die falsche Sorte Eltern anzieht.”