Die Zeit
Das Handy ist Teil unserer Privatsphäre. Warum wir es trotzdem leichtfertig hergeben, haben zwei Forscherinnen untersucht.
„Könnten Sie mal kurz Ihr Handy entsperren und es mir geben? Ich muss damit schnell nach nebenan gehen und etwas nachschauen.“ Würden Sie dieser Bitte nachkommen?
Das Handy ist unser intimster Begleiter. Es speichert die Namen und Adressen unserer Freunde, auch unsere E-Mails und Textnachrichten, Fotos, häufig sogar ein lückenloses Bewegungsprofil. Deshalb gerät es ins Visier von polizeilichen Ermittlern. Beschlagnahmen und durchsuchen darf die Polizei das Handy eines Beschuldigten allerdings nur mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl – oder aber wenn der Besitzer es ihnen freiwillig übergibt und gegebenenfalls per PIN oder Fingerabdruck entsperrt. Selbst wer meint, er habe nichts zu verbergen, sollte sich gut überlegen, ob er seine Intimsphäre freiwillig entblößt.
Roseanna Sommers von der University of Chicago und Vanessa Bohns von der Cornell-Universität im US-Bundesstaat New York hatten Zweifel, ob Menschen die Einwilligung zu einer Überprüfung ihrer Privatsphäre – in der Wohnung oder im Handy – wirklich aus freien Stücken geben.
Letzteres ist die Bedingung, damit allfällige Ergebnisse vor Gericht verwertbar sind. Die Forscherinnen vermuteten, dass man anders entscheidet, wenn man kühl über die Situation nachdenkt, als wenn man real mit ihr konfrontiert ist.
Sie ersannen ein Experiment, das diesen Zweifel nun tatsächlich untermauert hat (Yale Law Journal). Wenn sie Probanden abstrakt befragten, sagten knapp 28 Prozent, dass sie dem Versuchsleiter ihr Smartphone aushändigen würden. Als aber eine zweite Gruppe tatsächlich mit der Situation konfrontiert wurde, rückten 97 Prozent ihr Handy heraus.
Schon seit dem legendären Milgram-Experiment in den 1960er-Jahren ist bekannt, dass Menschen unter Druck Dinge tun, die sie sonst empört ablehnen würden. Milgram manipulierte seine Versuchspersonen so weit, dass sie bereit waren, anderen Stromstöße zu verpassen.
In dem aktuellen Experiment standen die Teilnehmer nicht einmal wirklich unter Druck. Sie wussten, dass sie an einem psychologischen Test teilnehmen sollten, und bevor es wirklich losging, stellte der Versuchsleiter oder die Versuchsleiterin die Frage nach dem Handy. Dabei handelte es sich nicht um einen älteren Wissenschaftler im Laborkittel, sondern um gleichaltrige Kommilitonen im alltäglichen Outfit. Trotzdem gaben fast alle Teilnehmer wie willenlose Zombies ihr Smartphone heraus.
Nicht-Begründung, die wie ein Beleg für die Dringlichkeit klingt
Diese Diskrepanz zwischen abstrakter Vorstellung und tatsächlichem Verhalten wurde schon in anderen Versuchen festgestellt. Psychologen folgern, dass wir uns emotional schwer in eine hypothetische Situation hineinversetzen können. Aus der Distanz urteilen wir rational, in der konkreten Situation verhalten wir uns emotional und spontan.
Sommers und Bohns bieten drei Erklärungen an. Erstens: Die Probanden beugen sich einer Autorität. Hier standen sie aber nicht einer Respektsperson gegenüber. Zweitens: Sie wollten eine soziale Konfrontation vermeiden, das angebliche Experiment nicht behindern. Nein zu sagen ist schwerer, als mitzumachen. Drittens könnte es sich um etwas handeln, was die Forscherinnen als mindlessness bezeichnen: Menschen reagieren gedankenlos auf eine wie selbstverständlich vorgetragene Bitte. Ein solches Verhalten wurde schon früher experimentell herbeigeführt: Jemand drängelt sich am Fotokopierer mit der Bemerkung vor, er müsse „nur mal schnell etwas kopieren“ – eine Nicht-Begründung, die wie ein Beleg für die Dringlichkeit klingt.
Hilft die Bemerkung, dass man die Bitte auch ablehnen kann, ohne Folgen zu befürchten? Eine solche Belehrung ist für deutsche Polizisten vorgeschrieben. Das testeten Sommers und Bohns in einem zweiten Versuch. Das Setting war das gleiche, aber an die Bitte um das Handy schloss sich der Satz an: „Sie haben das Recht, sich zu weigern, und das hat keinen Einfluss auf Ihre Teilnahme an der Studie oder Ihre Bezahlung.“ Selbst nach dieser Belehrung entsperrten 90 Prozent der Probanden ihr Smartphone und übergaben es.
Alle Teilnehmer gaben außerdem auf einer Skala von 1 bis 7 an, wie frei sie sich in ihrer Entscheidung fühlten. Die Werte lagen irgendwo in der Mitte – man fühlte sich nicht unter Druck, aber doch ein bisschen unwohl. Was bedeutet das für die juristische Verwertbarkeit von Handy-Auswertungen? „Wir wissen es nicht“, sagt Roseanna Sommers, „aber unser Ergebnis legt nahe, dass derjenige, der die Freiwilligkeit eines anderen beurteilen soll, dessen Freiheit systematisch überschätzt.“
Die beiden Forscherinnen leiten aus ihren Ergebnissen ab, dass Richterinnen und Richter, Anwälte und Anwältinnen sich vor einem schnellen Urteil sagen sollten: „Moment mal, das sieht für mich nach Freiwilligkeit aus – aber ich war nicht selber in der Situation.“ Um diese Sensibilität zu fördern, haben sie ihre Arbeit auch in einer juristischen Zeitschrift veröffentlicht und nicht in einem Journal für Psychologie.