Unsterblich im Hier und Jetzt?

Telepolis

Eine Menge Utopisten tummeln sich im Netz, das allen Unterschlupf und die Möglichkeit bietet, ihre Ideen zu veröffentlichen. Christoph Drösser stellt die Extropians vor, die gemäß dem Motto „Zur Hölle mit der Natur!“ an die Technik und ein ewiges Leben glauben.

Der Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit. Jede Religion entspricht ihren Anhängern, daß mit dem Tod nicht alles vorbei ist, sondern daß es ein Weiterleben in irgendeiner Form gibt – als Engel, Geistwesen, oder wiedergeboren in einem neuen Körper.

Aber in den letzten Jahren gibt es immer mehr Wissenschaftler, die meinen, dem sicher scheinenden Tod schon im Diesseits ein Schnippchen schlagen zu können – ewiges Leben durch moderne Technik. Obwohl der Mensch tödliche Krankheiten wie AIDS noch lange nicht „im Griff“ hat, glauben (vor allem in den USA) viele daran, daß wir kurz vor dem endgültigen Sieg über Tod und Vergänglichkeit stehen.

„Wer von Euch glaubt, daß er in 30 Jahren noch am Leben ist?“ fragt FM-2030 ins Publikum. Fast alle Anwesenden heben die Hand. „Und wer von Euch wird in 100 Jahren noch am Leben sein?“ Etwa die Hälfte des Publikums ist zuversichtlich. „Und wer wird in einer Million Jahren noch am Leben sein?“ Immerhin zehn der Anwesenden sind optimistisch, daß Ihnen in dieser Zeitspanne nichts Ernsthaftes zustoßen wird.

Extropians nennen sich die etwa 100 Optimisten, die sich im Juni 1995 im noblen Miramar-Sheraton-Hotel im kalifornischen Santa Monica zu ihrer jährlichen Versammlung getroffen haben. FM-2030, der seinen ursprünglichen Namen, sein Alter und seine Herkunft nicht gerne preisgibt, fesselt sie im Stil eines amerikanischen Fernsehpredigers. Mit einem osteuropäischen Akzent donnert der smarte Mittfünfziger in den Saal: „Wir fordern das Recht, ewig zu leben. Der Tod ist die größte Unwürde. Zur Hölle mit der Natur!“

Aber die Extropians sind keine Sekte, die sich mit religiösen Versprechungen über die Hinfälligkeit des irdischen Daseins hinwegtröstet. Im Gegenteil – sie verstehen sich als Atheisten und Vernunftmenschen. Sie glauben an den technischen Fortschritt, der in den nächsten Jahrzehnten das Leben auf unserem Planeten vollständig umkrempeln soll: Armut, Krankheit und Tod werden besiegt sein, alle Konsumgüter im Überfluß zur Verfügung stehen, und die Menschheit wird in ein neues, ein transhumanes Zeitalter eintreten. „Sterben ist menschlich“, sagt FM-2030„aber wo steht geschrieben, daß wir menschlich bleiben müssen?“ Statt dessen werde sich der menschliche Geist von seiner hinfälligen biologischen Hülle befreien und in künstlichen Körpern, elektronischen Gehirnen und virtuellen Datenwelten weiterleben – in alle Ewigkeit, zumindest aber bis zum Ende des Universums.

1987 kam der britische Student Max O’Connor aus Oxford an die University of Southern California in Los Angeles – für ihn eine Befreiung aus dem muffigen intellektuellen Klima Europas. „In England galt es als unziemlich, über Religion, Sex und Politik zu diskutieren – aber das waren gerade die Dinge, über die ich gerne diskutierte.“ Zwanzig Jahre nach der ersten Mondlandung war vom optimistischen Fortschrittsdenken der 50er und 60er Jahre nicht viel übriggeblieben. O’Connors Altersgenossen gefielen sich in kulturellem Nihilismus, warteten auf das Ende der Welt durch Atomkrieg oder Umweltkatastrophe. Er selbst war nach unbefriedigenden Erfahrungen mit Religion und Okkultismus zu dem Schluß gekommen, daß die wahre Selbstverwirklichung nur im Diesseits zu erreichen sei. Als sichtbares Zeichen seiner neuen Weltsicht änderte er seinen Namen in Max More („Max Mehr“) und gründete 1988 mit seinem ebenfalls umgetauften Zimmergenossen Tom Morrow (der heute noch unter seinem ursprünglichen Namen als Juradozent arbeitet) die Zeitschrift Extropy – ein Kunstwort, das die Verachtung für die Entropie ausdrücken sollte, jene physikalische Größe, die für die Tendenz der Materie zu Unordnung und Zerfall steht.

Die beiden Philosophiestudenten faßten ihre Vorstellungen von Zukunft und Fortschritt in fünf Prinzipien zusammen, mit denen sie auf die Suche nach Anhängern gingen. Ihr Credo: Biologische, politische, psychologische und technische Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Der Mensch kann sich selbst neu erschaffen – durch psychologische Techniken, aber auch durch „intelligente Drogen“ und Eingriffe in die Biologie von Körper und Gehirn. Sozialer Fortschritt ist nur möglich in einem freien Markt, zentrale staatliche Institutionen verhindern „selbstorganisierende“ Strukturen.

Mit dieser Mischung aus Fortschrittsglauben und radikalen politischen Positionen (die meisten Extropians stehen den Libertarians nahe, einer anarcho-kapitalistischen Partei in den USA) scharten die beiden Studenten bald ein Häuflein Gleichgesinnter um sich, vor allem junge Männer aus dem Universitätsmilieu, meist Informatiker oder Ingenieure. Aber sie schafften es auch, einige angesehene Wissenschaftler für ihren Zukunfts-Club zu begeistern: darunter Bart Kosko, bekanntgeworden durch seine Forschungen auf dem Gebiet der „Fuzzy-Logik“, den Roboterforscher Hans Moravec und Marvin Minsky, der in den 50er Jahren das Gebiet der „Künstlichen Intelligenz“ mitbegründete.

Was fasziniert die etablierten Wissenschaftler, sich in den Kreis dieser jungen Leute zu begeben, deren Thesen doch zumindest gewagt, wenn nicht spinnert sind? „Wenn ich sonst mit Leuten über das Problem rede, wie man denkende Maschinen macht, glauben die gar nicht, daß es überhaupt möglich ist“, sagt Marvin Minsky. „Dies hier ist eine Gemeinschaft, die nicht so sehr an alten Ideen hängt, mit denen kann man eine intelligente Diskussion führen.“ Unter den Extropians gilt keine Idee als zu versponnen und keine Voraussage als zu gewagt, solange sie sich an die rationalistischen Regeln hält.

Die Hauptsorge der jungen Optimisten ist, daß sie durch einen vorzeitigen Tod jenes neue Zeitalter verpassen könnten, in dem der Mensch endlich die Sterblichkeit besiegt hat. Sie gehen mit FM-2030 davon aus, daß alle, die die nächsten 30 Jahre überleben, auch in 100 Jahren noch mit von der Partie sind, und dann steht dem ewigen Leben nichts mehr im Wege. Es gilt also, Vorkehrungen zu treffen. Die meisten Extropians schlucken Vitamine und geheimnisvolle Drogen, die angeblich das Leben verlängern. Alle paar Monate wird in der Szene eine neue Substanz gehandelt, die angeblich in Tierversuchen zu längerer Lebensdauer geführt hat und die man sich unter Umgehung der strengen amerikanischen Gesundheitsbehörden meist aus dem Ausland besorgt. Im Moment auf der Hitliste: Melatonin, ein körpereigenes schlafanregendes Hormon, Deprenyl, das die Stimmung anhebt, und das „Verjüngungshormon“ DHEA. Einige experimentieren auch mit Wachstumshormonen, müssen dafür allerdings um die 20.000 Mark im Jahr hinblättern.

Für den Fall, daß all diese Drogen das Siechtum nicht verhindern oder Gevatter Tod per Verkehrsunfall anklopft, haben die meisten ihren Körper der Alcor Life Foundation vermacht: Eingefroren in künstlichem Stickstoff warten die klinisch Toten dann auf den Tag, an dem die Wiedererweckung der nach heutigen Maßstäben Verstorbenen technisch möglich ist – wenn es sein muß, auch einige hundert Jahre lang.

Die technischen Details dieser Auferstehung glauben die Extropians schon heute zu kennen. Das Zauberwort heißt Nanotechnologie: Eine Armee von winzigen, gerade molekülgroßen Robotern wird durch den leblosen Körper schwärmen und Zelle für Zelle reparieren. Auch die unvermeidlichen Frostschäden im Gehirn sollen auf diese Weise rückgängig gemacht werden, so daß der Mensch wieder erwacht, als wäre nichts geschehen.

Natürlich verstehen die Fortschrittsjünger das Einfrieren nur als eine grobschlächtige Übergangstechnik – wenn die Nanotechnik erst soweit ist, braucht niemand überhaupt erst zu sterben. Schon im lebenden Menschen könnten die intelligenten Winzlinge Alter und Krankheit entgegenwirken und so den Körper auf ewig jung und gesund erhalten.

Aber auch damit wollen die Extropians noch nicht zufriedengeben. Zu groß sind die Limitierungen unseres animalischen Körpers: Wir können ja nicht einmal fliegen, geschweige denn im Vakuum des Weltalls überleben. Und die größte Beschränkung ist unser Gehirn, jene anderthalb Kilo Biomasse, die sich in Jahrmillionen der Evolution entwickelt haben. Stück für Stück, Glied für Glied sollen unsere Organe durch technische Ersatzteile ergänzt werden – einschließlich des Gehirns. Da es unter wahren Extropians keine Frage ist, daß das Gehirn sich vollständig durch eine Maschine simulieren läßt, wird der Tag kommen, da der erste menschliche Geist in einen Computer übertragen wird – ein Vorgang, den der Roboterforscher Hans Moravec in seinem Buch „Mind Children“ als Downloading bezeichnet, heute von den Anhängern meist Uploading genannt. Mit diesem Tag beginnt das transhumane Zeitalter, denn jetzt sind der Expansion des Geistes wirklich keine Grenzen mehr gesetzt: Die „Taktfrequenz“ des künstlichen Hirns kann um das zehntausend- oder millionenfache erhöht werden, so daß sich die Geistesarbeit eines herkömmlichen menschlichen Lebens in Sekunden bewältigt läßt. Und vor einem eventuellen Datenverlust schützt eine Sicherungskopie.

Die transhumanen Geistwesen werden altmodische Menschen für eine Weile noch aus musealen Gründen wie in Zoos halten, aber bald werden wir für sie uninteressant sein. Was sie im einzelnen mit dem Universum anstellen werden, entzieht sich allerdings unserer Phantasie, so wie ein Regenwurm wenig Vorstellungen von menschlicher Zivilisation hat. Der Schritt vom Menschen zum Übermenschen stellt eine technologische Singularität dar – einen Punkt in Raum und Zeit, über den hinauszudenken uns irdischen Geistern nicht möglich ist.

Solche Szenarien mögen andere als erschreckend und phantastisch empfinden – für den extropischen Geist sind sie die notwendige Konsequenz streng rationaler Prinzipien. Und in gewisser Weise sind sie ja auch nur eine Extremform des naturwissenschaftlichen Denkens, wie eine simple Schlußfolgerung des Nano-Forschers Ralph Merkle nahelegt: „Dein Gehirn ist ein materielles Objekt. Das Verhalten materieller Objekte wird durch die Gesetze der Physik beschrieben. Die Gesetze der Physik können auf einem Computer modelliert werden. Also kann das Verhalten deines Gehirns auf einem Computer modelliert werden.“

Man kann nicht gerade sagen, daß sich die extropische Idee wie ein Lauffeuer verbreiten: Die Mitgliederzahlen des Extropy Institute stagnieren bei etwa 350. Die Welt scheint ihre Wahrheiten nicht hören zu wollen, lieber in „negativen“ Gedanken an Überbevölkerung und knappe Rohstoffe zu verharren und ihr Schicksal in die Hände eines bürokratischen, „entropistischen“ Staates legen zu wollen. So bleibt dem Häuflein nur, sich als elitäre Vorboten des neuen Zeitalters zu fühlen, freilich ohne verächtlich auf den Rest der Menschheit herunterzublicken – denn das würde den extropischen Prinzipien widersprechen. Niedere Gefühle haben in der Weltsicht der Extropians keinen Platz, auch Emotionen sollen auf rationaler Grundlage weiterentwickelt werden.

Das betont zum Beispiel Nancie Clark, eine der wenigen Frauen im extropischen Zirkel. „Zum Humanen gehört es, Gefühle zu haben. Zum Transhumanen gehört es, mit Gefühlen umzugehen.“ Die exaltierte Künstlerin, die schon einmal eine Liaison mit dem deutsche Regisseur Volker Schlöndorff hatte und sich jetzt als Muse von Max More sieht, versucht die extropischen Ideen in transhumane Kunst umzusetzen. „Ich bin jetzt optimistischer, zuversichtlicher, intelligenter, rationaler. So viele Menschen, die dogmatisiert sind, warten auf das Ende der Welt – wir tun das nicht.“ Jetzt malt sie kitschige Weltraumpanoramen mit engelsgleichen Frauenkörpern und träumt davon, eine Performance auf dem Mond abzuhalten.

Wann sie diesen Traum verwirklichen kann, ist alles andere als vorhersagbar, die Prognosen der einzelnen Extropians variieren stark. Aber was soll’s: Solange man sich einfrieren lassen kann, besteht kein Grund zur Eile. „Das Schöne an der Kryonik ist: Es gibt kein Zeitlimit“, erklärt der Fuzzy-Forscher Bart Kosko. „Solange jemand den flüssigen Stickstoff nachfüllt, kannst du warten – ob es 50 Jahre dauert, 500 oder 1000.“ (Christoph Drösser)